Sie stehen in einem Automat außerhalb der Moschee, die Weihwasserflaschen. Teuer sind sie, doch Amra kauft sich etwa zehn davon und macht sich auf den Weg nach Hause. Dort wird sie sie austrinken, das Istikhara-Gebet verrichten und ihre Koran-Kassetten abspielen. Sie hätte sich gewünscht, dass der Imam persönlich vorbeikommt, um ihr Zuhause zu segnen. Doch während ihres Treffens in der Moschee ist er erstmal eingeschlafen, dann hat er ihr die Kassetten gereicht und sie zum Bezahlen aufgefordert. Mit dem gekauften Weihwasser wird Amra sogar ihr Haus mittels eines Gartenschlauchs von außen besprühen. Schließlich kann das nicht schaden, denkt sie und erhofft sich ein Zeichen des Wohlgefallens Allahs.

Laienschauspielerin Alshaimaa Tayeb in der Rolle der frustrierten Amra. ©ALFILM
Das Gebet ist nur eine der Maßnahmen, auf die die ungefähr 40-jährige Amra zurückgreift, um sich auf die düstere Zukunft vorzubereiten, die sie erwartet. Ihr Mann Hilal, der kurz vor der Pensionierung steht, will erneut heiraten, und zwar die junge, attraktive Ishtar aus Syrien. Amra fühlt sich zurückgesetzt, ist sie doch eine devote Ehefrau, schuftet fast den ganzen Tag in der Küche, kümmert sich alleine um die drei Töchter und ihre alte, kranke Mutter, während Hilal nicht zuhause ist. Doch Amra hat ihm keinen Sohn geboren. „Hilal verdient einen Sohn!“, wettert die Schwiegermutter Saadiya und kündigt an, dass die neue Braut in Hilals Haus einziehen werde. Es wird außerdem erwartet, dass Amra der Ehe ihren Segen gibt. Das will sie sich aber nicht gefallen lassen.
Mahmoud Sabbagh nimmt die saudische Gesellschaft aufs Korn
Amra, amüsant und leicht cartoonig gespielt von Alshaimaa Tayeb, ist die Protagonistin von Mahmoud Sabbaghs neuem Spielfilm Amra and the Second Marriage, der 2018 auf dem Londoner Filmfestival seine Premiere feierte und nun auf dem arabischen Filmfestival ALFILM in Berlin gezeigt wird. Wie bereits in seiner Komödie Barakah meets Barakah (2016) nimmt Sabbagh darin die saudische Gesellschaft aufs Korn. Von der jungen Generation Saudi-Arabiens, die sich mehr persönliche Freiheiten wünscht, verschiebt der Regisseur diesmal den Fokus auf die Familienverhältnisse, die Ungleichheit zwischen den Geschlechtern, das Patriarchat und die Scheinheiligkeit der Religion im wahhabitischen Königreich.
Wird die Geschichte noch durch die Ankündigung der anstehenden Zweithochzeit Hilals in Gang gesetzt, rückt bald Amra ins Zentrum der Handlung. Durch die Kameraeinstellungen wird ihre zentrale Rolle veranschaulicht: In zahlreichen Szenen steht Amra mit ihren wilden Locken und ihrem ausdrucksvollen Gesicht à la Almodovar ganz konkret in der Mitte der Leinwand. Neben ihr wirken die anderen Figuren leider etwas unscharf. Dabei scheint es, als hätte der Regisseur unbedingt an jeder Figur einen bestimmten Kritikpunkt festmachen wollen (z.B. häusliche Gewalt oder Drogenkonsum), ohne diesen jedoch zu entwickeln. Als Zuschauerin oder Zuschauer erfreut man sich deshalb eher an der Protagonistin, die mit ihrer unermüdlichen Suche nach Lösungswegen den ganzen Film zu tragen scheint. Sucht sie dabei nach Hilfe, nach einem Ausweg oder nach Rache?
Zwischen Online-Coaching und lokalem Frauenverein
Wir sehen zu, wie Amra sich die Rede eines Imams anhört, der von einer Leinwand aus einer Gruppe von Frauen mit Nikab predigt, dass „Frauen das Brennholz der Hölle“ seien. Dann lässt Amra sich in Scheidungsangelegenheiten von einem jungen Richter beraten, der selbst schon drei Frauen hat und ihr stolz mitteilt, dass die Scharia ihm noch eine vierte gewähre. Verzweifelt greift Amra auf ein Online-Coaching mit einer Therapeutin zurück, die sie aus ihrer Wohnung in New York mit teuren und schwer anzuwendenden Video-Tipps behandelt. „Zieh den Kopf aus dem Sand, Amra!“, ist ihr Mantra. Dass diese Maßnahmen nichts bringen, ist von Anfang an ziemlich offensichtlich. Nur der Frauenverein in der Hauptstadt Riad scheint ihr einen konkreten Ausweg weisen zu können. Doch wenn die Feministinnen des Vereins sich mit dem Satz „Wir sind die Zukunft“ vorstellen, wird Amra misstrauisch. Angesichts dieses Mangels an Perspektiven führt ihre Fantasie sie schließlich auf die andere Straßenseite, wo ihr neuer Nachbar Rashid lebt. Er ist verwitwet, säkular, gutaussehend und freundlich.
Seine Kritik am religiösen und gesellschaftlichen Konservatismus in Saudi-Arabien formuliert Sabbagh nie unverhohlen, sondern immer leicht satirisch und mit beißendem Humor. Genau dieser außergewöhnliche Stil machte ihn 2016 international bekannt, als sein Debüt Barakah meets Barakah auf der Berlinale uraufgeführt und von Saudi-Arabien zur Teilnahme an den Oscars eingereicht wurde. Im Land selbst kam die Komödie jedoch nicht in die Kinos. Damals gab es dort nämlich keine. Der Film wurde aber von Netflix gekauft und somit online zugänglich.
Mit Amra and the Second Marriage dürfte es anders laufen. Das seit Jahrzehnten bestehende Kinoverbot fiel 2018 auf Befehl von Kronprinz Mohammed bin Salman, der mit seinem Plan „Vision 2030“ umfangreiche Reformen im Land durchsetzen will. Die Hoffnung, dass durch die Aufhebung des Kinoverbots eine saudische Film- und Kunstszene entstehen könnte, ist groß. Doch bin Salmans Plan zielt in erster Linie auf eine Steigerung des Wirtschaftswachstums. Das ist auch Thema in Sabbaghs Film, in dem immer wieder von Privatisierungen und Entlassungen die Rede ist.
Die Dramatik des Themas ist trotz Ironie deutlich zu erkennen
Dass Sabbaghs Gesellschaftskritik sich den Mitteln der Komik bedient, heißt nicht, dass sie nicht pointiert sei. Im Gegenteil beweist er mit Amra and the Second Marriage erneut, dass man sich schweren Themen mit Ironie nähern kann, ohne sie dabei zu banalisieren. Seine charmante Komik zeigt Sabbaghs Film am besten in den Gesprächen Amras mit Menschen, die ihr eigentlich helfen sollten, aber lieber ihre persönlichen Interessen verteidigen. In der Verwobenheit von Kritikebenen wird das Paradoxe an den geltenden Gesellschaftsnormen meisterhaft entlarvt. Dabei bleibt die Dramatik des Themas – die Unterdrückung von Frauen in Saudi-Arabien – unter der Witzoberfläche immer deutlich zu erkennen. Dass diese in knallbunte Bilder, gewollt übertriebenes Schauspiel und kleine Exkurse ins Horror-Genre gekleidet wird, scheint dabei nicht nur eine Frage der künstlerischen Mittel zu sein, sondern auch eine Strategie, um dem Eingriff der Zensur zu entgehen.