„Ich kann mich an keine Geschichte erinnern. Ich kann keine Geschichte erzählen“, sagt das Mädchen Amal gleich am Anfang des Dokumentarfilms Samouni Road des italienischen Regisseurs Stefano Savona. Zwei Sätze, die programmatisch für den gesamten Film sind. Um Erinnerung und Verdrängung geht es in Samouni Road, der 2018 in der „Quinzaine des Réalisateurs“ beim Cannes Filmfestival seine Premiere feierte, dort mit dem Preis „Œil d’or“ als bester Dokumentarfilm ausgezeichnet wurde und gerade auf dem arabischen Filmfestival ALFILM in Berlin lief.
Ausgangspunkt der Geschichte ist ein höchst dramatisches Ereignis: 2009 wurden 29 Mitglieder der palästinensischen Familie Samouni bei einem Angriff im Zuge der Operation „Gegossenes Blei“ der israelischen Luftwaffe im Gazastreifen getötet. Alle waren Zivilisten. Ihre Häuser wurden zerstört, die Olivenbäume und die hundertjährige Maulbeer-Feige auf ihrem Grundstück entwurzelt. Auch Amal wurde zunächst für tot gehalten. Um sich dieser traumatischen Familiengeschichte zu nähern, bedient sich Savona einer Filmsprache, die Dokumentation, rekonstruierte Luftaufnahmen und Animation vereint.
FANN: Mit Cast Lead und Samouni Road haben Sie zwei Filme über die israelische Militäroffensive 2008/2009 in Gaza gedreht. Inwiefern gehen Sie das Thema darin unterschiedlich an?
Stefano Savona: Mit Cast Lead wollte ich den Krieg dokumentieren. Ich habe es als meine moralische Verpflichtung empfunden, Zeugnis davon abzulegen, was damals in Gaza passierte. Das habe ich getan, indem ich die Ereignisse mit meiner Kamera festgehalten habe. Tragödien zu dokumentieren ist wichtig, aber allmählich ist mir klar geworden, dass ich durch die reine Dokumentation die individuellen Schicksale ausgeschlagen habe – genau wie der Krieg, der neben Existenzen, Häusern und Natur vor allem die Individualität vernichtet. Damals habe ich angefangen, mich zu fragen, ob eine andere Art von Kino möglich ist. So bin ich auf die Idee gekommen, filmische Mittel zu nutzen, um die Vergangenheit und die Erinnerung wiederzubeleben, in die individuellen Geschichten der Menschen einzutauchen und sie mit ihren Widersprüchen, Eigenschaften und Persönlichkeiten zu porträtieren. Das mache ich in Samouni Road mittels Animationen. Insofern ist der Film eine Art Gegenstück zu Cast Lead.
FANN: In den animierten Szenen erzählen Sie die Vergangenheit aus Amals Perspektive.
Stefano Savona: Wegen der traumatischen Kriegserfahrung hat Amal zunächst das Gedächtnis verloren. Nach dem Angriff konnte sie nicht länger über die Zeit davor sprechen. Für Amals Bruder Fuad und andere Familienmitglieder war das Erzählen hingegen eine Reaktion auf das Trauma. Dank ihrer genauen Erzählungen konnte ich rekonstruieren, wie der Wohnort und das Leben der Samounis vor dem Krieg ausgesehen hatte. Doch statt nur diese Erzählungen aufzunehmen und zusammenzuschneiden, wollte ich unbedingt einen Weg finden, Amal ein Ausdrucksmittel für das zu verschaffen, was sie nicht mehr sagen konnte.
FANN: Mit den Animationen haben Sie den italienischen Zeichner Simone Massi beauftragt, der eine sehr besondere Technik anwendet. Warum eignet sie sich so gut für Ihren Film?
Stefano Savona: Aus mehreren Gründen: 3D-Animationen wären mit den emotionalen, dokumentarischen Szenen, die ich eine Woche nach dem Angriff gedreht hatte, nicht vereinbar gewesen. Ich wollte keinen Bruch zwischen Animation und Dokumentation, sondern Kontinuität und Austausch. Thematisch erinnert die Kratztechnik von Simone Massi an die Feldarbeit, die immer wieder im Film heraufbeschworen wird. Und wenn die Kinder im Film etwas zeichnen, kratzen sie es ganz konkret von der Erde ab. Auf einer anderen Ebene kann diese aufwendige, „dreckige“ Technik die Mechanismen von Gedächtnis und Erinnerung so gut wie keine andere wiedergeben. Die Bilder entstehen nämlich dadurch, dass man sie mit Metallklingen aus einer schwarzen Masse herauskratzt. Die mühsame Produktion – eine Sekunde Animation kostet zwei Tage Arbeit – ist in den finalen Bildern deutlich zu spüren. Das verleiht ihnen eine gewisse Magie und trägt dazu bei, dass sie sehr gut zu den schmerzhaften, dramatischen Szenen der Realität passen.

Die animierten Sequenzen wurden von Simone Massi gestaltet. ©ALFILM
FANN: Neben Animation und der Dokumentation gibt es auch rekonstruierte Bilder des Angriffs. Warum war Ihnen das wichtig?
Stefano Savona: Ich musste einfach erzählen, was auf militärischer Ebene geschehen war. Als ich mit den Dreharbeiten anfing, wusste man noch nichts über die Hintergründe der Operation. Später haben die Ermittlungen gezeigt, dass die Attacken anhand von israelischen Drohnenbildern angeordnet worden sind. Basierend auf Berichten, Untersuchungen und Zeugenaussagen haben wir diese Drohnenbilder aus der Vogelperspektive im Film rekonstruiert. Das ist ein gewaltiger und unbequemer Perspektivwechsel für die Zuschauer, die damit in eine Mittäterposition versetzt werden.
FANN: Trotz der schwierigen Aufarbeitung des Traumas suchen die Samounis aktiv nach Wegen, um weiterzuleben. Wie haben Sie das wahrgenommen?
Stefano Savona: Der Wille, um jeden Preis nach vorne zu schauen, hat etwas Militantes an sich. Das manifestiert sich vor allem in den Kindern, in dem erneuten Bebauen der Erde und in den Hochzeiten. Das sind alle Widerstandsgesten. Eines Tages hat Fuad mich angerufen, um mir zu sagen, dass er bald heiraten werde. Zu der Zeit war ich in Europa, bin mit großen Schwierigkeiten von heute auf morgen abgereist und am Hochzeitstag in Gaza angekommen. Zum Glück! Ansonsten hätte der Film kein Ende gehabt. Mittlerweile haben alle anderen ebenfalls geheiratet, auch Amal, die jetzt 20 Jahre alt ist und ein Kind erwartet. Auch die Bäume sind wieder gewachsen und viele der Gebäude wurden neu errichtet. Dieser Neubeginn war 2009 nicht absehbar.
FANN: Hatten Sie nie Sorgen, sich als Nicht-Palästinenser einer solchen Geschichte anzunehmen?
Stefano Savona: Ich halte die Idee, dass man nur die eigene Geschichte erzählen darf und kann, für falsch. Das Selbstporträt ist nicht das einzig mögliche Porträt und wenn es eine Person gibt, die unser Gesicht nicht kennt, dann sind wir es selbst. Wir kennen nur unser Spiegelbild und oft können wir uns darin nicht wiedererkennen. Ich glaube, dass eine Erzählung, die Widersprüche auf mehreren Ebenen mitdenken will, nicht von innen kommen kann. Außerdem ist der Blick von innen wahrer, jedoch schwieriger zu vermitteln. Jeder hat für mich das Recht, jede Geschichte zu erzählen. Dabei muss man jedoch immer berücksichtigen, dass Erzählungen subjektiv sind. Außerdem sind eine intensive Beschäftigung mit dem Thema und Gewissenhaftigkeit unabdingbar. Für Samouni Road habe ich vier Jahre lang jeden Tag eng mit meinem Assistenten aus Gaza zusammengearbeitet. Davor habe ich mit den Samounis und meinem Dolmetscher sehr viel Zeit verbracht.
FANN: Warum brauchen wir heute ein neues Narrativ über Palästina und Gaza?
Stefano Savona: Das dominante Narrativ über Palästina ist eng verbunden mit der Geschichte des palästinensischen Volkes in den letzten 60 Jahren. An die Palästinenser und insbesondere an die Bevölkerung von Gaza erinnert man sich nur, wenn dort Krieg herrscht oder es israelische Angriffe gibt. Das Kino ist da keine Ausnahme. Auch in Filmen tendiert man eher dazu, über die Anzahl der Toten und das Ausmaß der Zerstörungen zu berichten, statt über die persönlichen Geschichten der Menschen. Individualität wird damit oft auf die Namen der Toten reduziert oder, wie man in Gaza sagt, der „Märtyrer“. Das Kino soll sich aber nicht auf eine Feststellung der Tragödie beschränken. Seine Aufgabe besteht darin zu vermeiden, dass zu Tod und Zerstörung die Vernichtung individueller Geschichten hinzukommt.
FANN: Sie haben Archäologie studiert. Wie sind Sie zum Regisseur geworden?
Stefano Savona: Mit 19 habe ich angefangen, an archäologischen Ausgrabungen in Ägypten, dem Sudan und an vielen Orten im Nahen Osten teilzunehmen. Mit 24 habe ich verstanden, dass es sich dabei eher um einen Kindheitstraum handelte und ich lieber von der Gegenwart erzählen wollte. Deshalb habe ich das Studium abgebrochen. So wie ich die Arbeit eines Regisseurs verstehe, ist sie aber in einem gewissen Sinne auch sehr „archäologisch“. In mühsamer Kleinarbeit suche ich nach Spuren und rekonstruiere Welten. Also mache ich eigentlich immer noch die gleiche Arbeit, aber mit echten, lebendigen Geschichten.
Stefano Savona wurde 1969 in Palermo (Italien) geboren. In Rom studierte er Archäologie und Anthropologie, bevor er Mitte der 1990er-Jahre erst die Fotografie und dann das Kino entdeckte. Mit seinem Film Spring in Kurdistan über kurdische PKK-Kämpferinnen und -Kämpfer wurde Savona international bekannt. 2009 folgte Cast Lead über die gleichnamige Militäroperation der israelischen Streitkräfte gegen die Hamas im Gazastreifen. Der Film wurde auf dem Filmfestival in Locarno mit dem Jurypreis im Wettbewerb „Cineasten der Gegenwart“ ausgezeichnet und ist eine Art Prequel zu Samouni Road. Mit dem Film Tahrir Liberation Square über die ägyptische Revolution gewann Savona 2011 den italienischen Filmpreis „David di Donatello“. Savona lebt in Paris, wo er die Produktionsfirma Picofilms gegründet hat und an der Filmhochschule La Fémis unterrichtet.