Die Wände sind mit bemalten Keramikfliesen mit blauen und weißen Motiven verkleidet. Auf dem Tisch steht ein Tablett mit einer silbernen Teekanne und einigen Gläsern für die Gäste. Doch den versteinerten Gesichtern der neun am runden Tisch versammelten Menschen nach zu urteilen, scheint niemand Lust auf Tee zu haben. „Mein Mädchen, trink doch ein bisschen Tee. Er wird dich wärmen“, so versucht die Gastgeberin die Stimmung aufzulockern und schenkt Sofia Tee ein. Die nimmt das Glas entgegen, in den Armen hält sie ihr neugeborenes Baby.
Alles beginnt beim Abendessen
Diese Szene ist nicht die einzige in Meryem Benm’bareks Film Sofia, die sich an einem Tisch abspielt. Gleich in der Eröffnungssequenz richtet eine gutbürgerliche Familie an einem Esstisch ein Festmahl für ihre Gäste aus. Zwei Männer erzählen von einem lukrativen Geschäft, das sie demnächst gemeinsam abschließen wollen. Die Frauen fragen nach Details. Die zwei jungen Cousinen Sofia und Lena kümmern sich um das Dessert. Es gibt Kuchen und frische Feigen. Die Atmosphäre scheint fröhlich zu sein, in der Luft liegen die großen Erwartungen der Familie angesichts der Pläne, die ihnen den sozialen Aufstieg ermöglichen sollen. Das erscheint verdächtig, genau wie in einer französischen Komödie, in der die anfangs herrschende Harmonie plötzlich von etwas Unerwartetem gestört wird. Auch in Sofia wird die scheinbare Ordnung nicht lange halten. Doch Sofia ist keine Komödie, sondern ein Drama.
Das Regiedebüt der marokkanischen Regisseurin Meryem Benm’barek, das 2018 beim Filmfestival in Cannes in der Sektion „Un Certain Regard“ mit dem Preis für das beste Drehbuch ausgezeichnet wurde, läuft nun im Programm des arabischen Filmfestivals ALFILM in Berlin. Sofia spielt in Casablanca und erzählt von einer zwanzigjährigen, unverheirateten Frau, die schwanger wird und die Geburt ihres Kindes vertuscht, um nicht ins Gefängnis zu kommen. Denn Artikel 490 des marokkanischen Strafgesetzbuchs sieht eine Haftstrafe für außereheliche sexuelle Beziehungen vor.
Sexuelle Selbstbestimmung in Marokko
Die ersten 45 Minuten des Films vergehen blitzschnell, die Handlung folgt einem rasanten Tempo, handelt es sich doch um einen Wettlauf mit der Zeit. Alles beginnt beim oben erwähnten Abendessen, währenddessen Sofia plötzlich Geburtswehen bekommt. Ihre Cousine Lena merkt das sofort und bringt Sofia ins Krankenhaus. Den Eltern sagen sie, dass es sich dabei bloß um „Frauenprobleme“ handele und sie deshalb schnell zur Apotheke müssten. Das ist der dramaturgische Trick, der Benm‘barek erlaubt, die zwei jungen Frauen aus dem Haus der Familie zu holen.
Bis zum Einsetzen der Geburtswehen hat Sofia selbst ihren Zustand nicht erkannt. „Das nennt sich eine verdrängte Schwangerschaft“, erklärt ihr Lena, die Medizin studiert. Es ist nicht einfach, ein Krankenhaus für Sofia zu finden, denn Kliniken machen sich strafbar, wenn sie Geburten unehelicher Kinder nicht anzeigen, und werden deshalb streng kontrolliert. Nur dank der Hilfe eines Freundes kann Sofia schließlich ihr Baby zur Welt bringen. Es ist ein Mädchen.

Eisiges Schweigen am runden Tisch. ©Wiame Haddad
Es folgt die Suche nach dem Vater, die Sofia und Lena durch die Straßen Casablancas ins ärmlichere Viertel Derb Sultan und bis vor eine blaue Tür führt. Dort lebt Omar. Erkennt er das Kind an und heiratet Sofia, ist sie gerettet. Was aber, wenn er das ablehnt? Verzweifelt erwägt die junge Mutter, das Baby einfach dort auszusetzen und alles hinter sich zu lassen. Am Ende tut sie das aber doch nicht.
Hochzeit als Ausweg und Sackgasse
Inzwischen hat die Familie alles entdeckt. Mit dem in eine Decke gewickelten Baby in den Armen hört sich Sofia die Anschuldigungen ihrer Eltern und Tante schweigend an. Durch die außereheliche Schwangerschaft habe sie die Ehre der Familie ruiniert und deren aussichtsreiche Pläne vereitelt. Nur eine Hochzeit mit dem Vater des Kindes könne die Situation noch retten. Deshalb versammeln sich die zwei Familien in Omars Wohnung in Derb Sultan. Dort wird nicht nur kein Tee getrunken, sondern auch nicht wirklich miteinander geredet. Es ist eher Omars Mutter, die Sofias Eltern zu ihrem gesellschaftlichen Status befragt.
Nicht nur patriarchale Strukturen und die Stellung der Frau in der marokkanischen Gesellschaft werden dabei beleuchtet. Die Bruchstellen zwischen unterschiedlichen sozialen Schichten sind ebenfalls Thema in Benm’bareks Film. „Was hattest du in dem Viertel zu suchen?“ Das ist die erste Frage, die Sofias Mutter stellt, als sie ihre Tochter nach der Geburt wiedersieht. Es geht aber nicht nur um den Unterschied zwischen Sofias Mittelklasse-Familie und Omar, der in ärmlichen Verhältnissen lebt. Auch Sofia und Lena werden einander gegenübergestellt, zunächst einmal in Bezug auf ihre Französischkenntnisse, die in Marokko als Gradmesser für die Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Schicht gelten.
Soziale Spannungen innerhalb der Großfamilie
So wird Sofia mit der Begründung, dass ihr Französisch schlecht sei, der Job in einem Callcenter gekündigt. In Lenas Familie, die in einer modernen Wohnung im Luxusviertel Anfa lebt, spricht man hingegen untereinander Französisch. Lenas Mutter hat einen wohlhabenden Franzosen geheiratet, der Exportgeschäfte mit Europa macht. Sofias Familie leiht sie manchmal Geld und wenn die Lage es „erfordert“, nutzt sie das als Bestechungsmittel, zum Beispiel um Omar zu überzeugen, das Kind anzuerkennen und ihre Nichte Sofia zu heiraten.

Meryem Benm’bareks Debütfilm feierte seine Weltpremier in Cannes. ©A. Luis Fabrega
Frauen sind die zentralen Figuren in Benm’bareks Film. Obwohl sie unter der patriarchalen Gesellschaft leiden, werden sie von der Regisseurin nicht als passive Figuren dargestellt. Im Gegenteil sind sie diejenigen, die in fast totaler Abwesenheit der Männer die Verantwortung übernehmen und nach konkreten Lösungen suchen – und zwar nach den bestmöglichen, die ihnen in diesem System zugestanden werden. Auch wenn das heißt, einen fast Unbekannten zu heiraten und dabei so tun, als ob man glücklich sei. Dass Omar zur Heirat mit Sofia gezwungen wird, macht außerdem deutlich, dass niemand von den Auswirkungen patriarchaler Strukturen verschont bleibt, nicht einmal Männer.
Ein raffinierter Film ohne übermäßige Dramatisierungen
Die Protagonistin tritt in dieser gesellschaftlichen Konstruktion gleichzeitig als Opfer und als Täterin auf. Doch Benm’bareks Film fällt kein moralisches Urteil über sie. Im Gegenteil steht die Regisseurin ihrer verschlossenen Heldin einfühlsam gegenüber. Das wird insbesondere in der Geburtsszene spürbar, in der der Fokus auf Sofias körperliches Leiden gelegt wird. Ansonsten ist ihre Stimme im ganzen Film kaum zu hören. Sofia hat das Trauma verstummen lassen. Dabei wird klar, dass sie noch viel mehr verschweigt.
Indem die Regisseurin ihre Kritik an einer patriarchalen Politik und Gesellschaft an der individuellen Geschichte Sofias festmacht, ist ihr ein raffinierter Film gelungen, der gleichzeitig politisch und ästhetisch sein kann und übermäßige Dramatisierungen nicht nötig hat. Das liegt auch an der sensiblen Performance von Schauspielerin Maha Alemi, die Sofia auf eine überraschend einfache und gemäßigte Art und Weise darstellt. Dass Benm’barek ihre subtile Gesellschaftskritik mit zahlreichen pointierten Überlegungen und komplexen Charakteren zudem in knappe achtzig Minuten verpackt, ist nicht nur für ein Regiedebüt eine Seltenheit.
Beim 10. Arabischen Filmfestival ALFILM läuft Sofia am 09.04. (Arsenal) um 21h. Tickets gibt es hier.