„Ich bin nicht als Schriftstellerin hierhergekommen, sondern als Thema“. Mit diesen Worten fasste die ägyptische Mathematikerin und Aktivistin Laila Soueif ihre Teilnahme am Internationalen Literaturfestival Berlin (ilb) im September dieses Jahres zusammen. Sie war auf Einladung des amerikanischen Journalisten und Schriftstellers Scott Anderson nach Berlin gekommen, um an einer Diskussion über dessen Buch Fractured Lands: How the Arab World Came Apart (2017) teilzunehmen, für das Anderson sie interviewt hat.
Laila Soueif wurde 1956 in London geboren. Sie ist Mathematikprofessorin, Menschenrechtsaktivistin und eine der Gründerinnen der „Arbeitsgemeinschaft für die Unabhängigkeit von Universitäten“ in Ägypten. Auch an der Gründung des „Ägyptischen Verbands zur Bekämpfung von Folter“ war sie beteiligt. Mit ihrem Partner, dem mittlerweile verstorbenen Menschenrechtsaktivisten Ahmed Seif, hat sie drei Kinder, von denen eines – ihr Sohn Alaa Abd el-Fattah – wegen seines politischen Aktivismus nach Amtsantritt von Präsident Abdel Fattah el-Sisi zu einer mehrjährigen Gefängnisstraße verurteilt wurde.
FANN: Hier in Berlin sind Sie laut eigener Aussage vielen jungen Ägypterinnen und Ägyptern begegnet. Haben Sie in den letzten Jahren eine vermehrte Auswanderung festgestellt?
Laila Soueif: Natürlich! Fast alle jungen Ägypter, die ich kenne, wollen Ägypten verlassen. Das gilt nicht nur für diejenigen, die politisch verfolgt werden, sondern auch für diejenigen, die gute Jobs haben. Alle wollen raus. Das Leben in Ägypten ist sehr schwierig geworden. Leider sind die Leute, die Ägypten verlassen, genau diejenigen, die wir am meisten brauchen. Ich mache ihnen aber keine Vorwürfe … Lasst sie ausreisen, damit sie sich schützen können! Nur Gott weiß, was ihnen passieren könnte, wenn sie in Ägypten bleiben.

Die ägyptische Menschenrechtsaktivistin Laila Soueif. © privat
FANN: Inwieweit ähneln sich die politischen Kämpfe unter Anwar el-Sadat, Hosni Mubarak und Abdel Fattah el-Sisi? Wie unterscheiden sie sich?
Laila Soueif: Die Ära Sisi ist die gefährlichste und schwierigste. Sie ist tatsächlich gefährlich in dem Sinne, dass Leben und Freiheit der Menschen bedroht sind. Das Sisi-Regime ist brutaler als die zwei vorherigen, was sich daraus erklärt, dass es nach einer Revolution entstanden ist. Es ist ein verängstigtes Regime, das versucht, eine Revolution ruhigzustellen. Es versucht nicht, das Leben inmitten der Proteste fortzuführen, wie es z.B. Mubarak gemacht hat. Mit der Ära Sadat lässt sich das schwer vergleichen, weil sie sehr kurz war und weil Sadat während seiner ersten Amtszeit versucht hat, das Leben auf eine Art zu organisieren, die den Menschen etwas Bewegungsspielraum lässt. Ägypten hat nie ein nicht-repressives Regime erlebt. Die Form des Regimes und die Gruppen, die besonders stark unterdrückt werden, ändern sich. Was gleich bleibt, sind die repressive Regimes selbst, die Menschenrechte missachten. Das Sadat-Regime (mit Ausnahme der letzten zwei Monate) und das Mubarak-Regime haben auf der Grundlage eines Gleichgewichts funktioniert und daher Freiräume gelassen. Deshalb gab es einen gewissen Raum für Aktivismus. Den gibt es jetzt nicht. Die aktuelle Lage ist erschreckend. Jeder, der sich widersetzt, und jeder, der früher opponiert hat und heute gezwungen ist, seine Loyalität zum Regime zu zeigen und seine Freunde zu verraten, ist bedroht. Das ist ein Rachefeldzug gegen die Vergangenheit der Menschen. Gleichzeitig gibt es Leute, die darauf bestehen, Widerstand zu leisten, und das ist normal. Die Vorstellung, dass man alle Leute mundtot machen kann, ist verrückt und praktisch nicht umsetzbar.
FANN: Kann es unter diesen Umständen in Ägypten noch eine echte Widerstandsbewegung geben?
Laila Soueif: Es gibt einige, die sich bewegen, aber das ist keine starke oder auf die Praxis ausgerichtete Bewegung. Was häufiger vorkommt, ist ein allgemeiner Zustand der Ablehnung. Ich meine damit die Ablehnung von Unterwerfung, auch wenn es keine richtige Bewegung ist. Folgendes Beispiel erzähle ich oft: Im Alltag wiederholen sich Momente, in denen Offiziere normale Bürger wegen einer bloßen Meinungsverschiedenheit töten. Als wäre das nicht schon erschreckend genug, gibt es niemanden, der die Offiziere zur Rechenschaft zieht. Wenn man die Details betrachtet, findet man ein sich wiederholendes Element: den Streit. Wobei egal ist, wer ihn begonnen hat. Der Offizier beleidigt den Bürger verbal und körperlich. Der Bürger lehnt es ab, sich der Erniedrigung und Beleidigung zu unterzuwerfen, was den Streit ausufern lässt und dazu führt, dass der Offizier den Bürger tötet. Das ist eine Tragödie. Wenn wir das Ereignis aber mit dem vergleichen, was vor zehn Jahren passiert wäre, so zeigt sich, dass sich Bürger vor zehn Jahren unterworfen, die Beleidigung nicht erwidert hätten und nicht getötet worden wären. Heutzutage akzeptieren Bürger diese Art von Erniedrigung nicht mehr. Es hat sich also etwas verändert.
Die Leute, besonders die jüngeren, sind nicht mehr wie früher bereit, systematische Erniedrigungen zu akzeptieren.
Die Reaktion des Regimes darauf ist gewaltsam; Offiziere werden nicht zur Verantwortung gezogen, was sie nicht eben beliebter macht. Das ist natürlich noch keine Bewegung, aber irgendetwas hat sich verändert. Das gleiche gilt im Falle von sexueller Belästigung von Frauen. Die gab es in der Vergangenheit genauso häufig wie heute. Aber heute reagieren Frauen und konfrontieren diejenigen, die sie belästigen. Ein Teil der patriarchalischen Gewalt ist eine Reaktion darauf, dass Frauen ihre Rechte einfordern. Diese Reaktion des Patriarchats ist erschreckend und nimmt immer gewaltsamere Formen an. Aber allgemein gilt, dass sich die Wahrnehmung der Menschen verändert hat, denn sie kennen ihre Rechte und akzeptieren Erniedrigungen nicht mehr.
FANN: Wie steht es speziell um die Menschenrechtsbewegung in Ägypten?
Laila Soueif: Sehr schlecht. Der herbste Schlag war, dass die Justiz zum Feind übergelaufen ist. Vorher hat sie auf Gesetze, internationale Verträge und ihr Image in der Welt geachtet – und das trotz der Korruption und des Klassismus, die in den Institutionen herrschen. Es gab gewisse Spielräume. Wenn man z.B. einen Angeklagten vertreten hat, der unter einer Form von Unterdrückung litt, konnte man vor Gericht etwas für ihn erreichen. Heute ist das vorbei. Die Justiz ist Teil des Regimes und ein Instrument zur autoritären Unterdrückung der Menschen geworden. Die Handlungsfähigkeit der Menschenrechtsbewegung ist davon am stärksten betroffen. Man kann Menschenrechtsverletzungen nur noch entlarven. Wir sind außerdem an einem Punkt, an dem die internationale Gemeinschaft dazu übergegangen ist, diesen Dingen explizit den Rücken zuzukehren.
Menschenrechte waren noch nie wichtig für Regierungen, aber sie haben sie zumindest in Verlegenheit gebracht. Heutzutage funktioniert das in vielen Fällen nicht mehr.
Dazu zählen auch westliche Regierungen, die die Spannungen und Interessen ihrer Bevölkerungen ignorieren. Es wird versucht, die Erfolge, die von den Bevölkerungen in den letzten fünfzig Jahren oder von den Jugendlichen während der Revolution erkämpft worden sind, rückgängig zu machen. Die Bevölkerung soll drei Schritte zurückgedrängt werden, deshalb müssen wir gemeinsam Widerstand leisten und Solidarität untereinander üben.
FANN: Sie sind seit Jahrzehnten politisch aktiv. Ihre Familie wurde verfolgt, zuletzt wurde Ihr Sohn Alaa inhaftiert. Was motiviert Sie, trotzdem weiter für die Einhaltung der Menschenrechte zu kämpfen?
Laila Soueif: Erstens bin ich ein Kind meiner Zeit. Im Anschluss an die Niederlage im Sechstagekrieg 1967, als ich elf Jahre alt war, bin ich mir zum ersten Mal der Welt, der Politik und auch der Arbeiterbewegung bewusst geworden. Damals bin ich politisch aktiv geworden. Stellen sie sich vor, was für ein Tiefpunkt das war! Diese Niederlage hat die ganze Region gebrochen. Der Niedergang fing damals an und hat seitdem nicht aufgehört. Es gibt eine Geschichte, die ich nie vergessen werde: 1976 habe ich meine Schwester besucht, die damals in England ihre Doktorarbeit geschrieben und in einem abgelegenen Haus auf dem Land gelebt hat. Drei Tage war ich alleine zuhause und habe keine Zeitungen gelesen. Anschließend habe ich herausgefunden, dass in genau diesen Tagen das Massaker von Tel al-Zaatar geschehen ist. Das hat mich dazu bewegt, um Verzeihung zu bitten. Ich habe mir geschworen, dass kein Tag mehr vergehen würde, an dem ich nicht die Nachrichten lese. Als ob die Welt mich mit etwas bestraft hätte, das viel schlimmer war als alles, was ich mir je hätte vorstellen können.

Laila Soueifs Sohn Alaa Abd el-Fatah wurde 2014 zu 15 Jahren Haft verurteilt. © privat
FANN: Was haben Sie gefühlt, als im Januar 2011 die Revolution in Ägypten ausgebrochen ist?
Laila Soueif: 2011 war eine Chance. Wir hatten die Möglichkeit, die Lage im Land wirklich zu verändern. Vielleicht war es keine Möglichkeit, einen Weg radikaler Reformen einzuschlagen, aber doch zumindest einen, der besser ist als unsere Vergangenheit und diese Gegenwart, von der wir gar nicht sprechen wollen. Wir hatten die Chance, die Grundlagen das Bildungs- und des Gesundheitssystems, den Zugang zu Kultur und die Gleichbehandlung von Frauen und Männern zu verbessern. Die Chance war tatsächlich da, vom Anfang der Revolution bis 2013, als die Verteilung von Macht und Autorität grundlegend verändert wurde. Es war eine Chance, die leider vertan wurde. Wir haben alle dazu beigetragen, manche mehr als andere. Es war von Beginn der Revolution an klar, dass die Mächte, die gegen sie sind, ihre Truppen in Stellung bringen.
Die westlichen Regierungen waren bereit, mit einer sehr verwässerten Version dieser Revolution zu leben. Die arabischen Regimes waren gar nicht bereit, mit dieser Revolution zu leben.
Sie alle haben versucht, sich zu organisieren. Das ist ihnen gelungen und wir haben unsere Chance vertan. Alle haben etwas dazu beigetragen: Reformer, Islamisten, Säkulare, radikale Islamisten und radikale Säkulare. Alle Akteure haben ihren Teil dazu beigetragen, dass diese Chance vertan wurde. Meiner Meinung nach war der Beitrag der Reformer am größten, unabhängig davon, ob sie islamistisch oder säkular sind. Ihr Beitrag war nicht etwa größer, weil sie böser sind, sondern weil den Radikalen die politischen Werkzeuge fehlten. Den Reformern hat sich die Machtfrage gestellt. Leider konnten sie sich nicht vom reformistischen Lager ins revolutionäre Lager bewegen. Sie sind im reformistischen Lager geblieben und haben versucht, die Revolutionäre zum Schweigen zu bringen. Sie waren der Meinung, dass das revolutionäre Lager seine Rolle schon gespielt habe.
FANN: Haben Sie angesichts dieser Niederlage noch Hoffnung für Ägypten?
Laila Soueif: Ja, ich habe Hoffnung im praktischen Sinne. Die Menschen werden nicht abwarten, bis sie vor Hunger oder Unterdrückung sterben. Sie leisten jetzt schon Widerstand und werden das auch in Zukunft tun. Obwohl die Lage aktuell schlimm ist, ist sie meiner Meinung nach besser als vor 2011. Heutzutage ist es schwieriger und gefährlicher, aber besser. Wenn wir zwischen 2000 und 2011 eine Demonstration organisiert haben, waren wir nur 30 Leute und keiner hat uns zugehört. Viele von uns haben auf einer komplett elitären Ebene gearbeitet. Es macht einen Unterschied, ob man einer besiegten Massenbewegung angehört oder gar keiner. Wir leben jetzt in der Realität einer besiegten Massenbewegung. Die Massen haben nicht entschieden, dass wir Hundesöhne sind und dass die Offiziere uns schlagen und foltern dürfen, sondern sie haben Angst und haben eine kurze Pause eingelegt. Sie glauben zwar, dass sie aktuell nichts tun können, aber die Werte, wegen derer sie 2011 auf die Straße gegangen sind, haben sie nicht verleugnet. Diese Werte sind noch da. Das ist der Unterschied zur Realität vor 2011, als die Mehrheit noch nicht die Sprache dieser Werte gesprochen hat, weil sie nie davon gehört hatte.
Übersetzung: Ibrahim Mahfouz

Palästinensische Journalistin.