FANN: Sie setzen sich mit der Syrian Feminist Lobby (SFL) für einen emanzipatorischen Wandel in Syrien ein. Was sind die dringendsten Probleme in Sachen Gleichberechtigung?
Lama Ahmad: In Diktaturen und allgemein in politisch und wirtschaftlich instabilen Ländern gibt es große soziale Ungleichheit. Freiheiten und Menschenrechte fehlen völlig. In der syrischen Gesellschaft gibt es aufgrund von Diktatur, Gesetzen, religiösen Vorbehalten und gesellschaftlichen Konventionen wenig Bewusstsein für Gleichberechtigung und Feminismus. Zum Beispiel kann in Syrien ein Mann eine Frau ermorden, nur weil er vermutet, dass sie fremdgeht. Sogenannte „Ehrenmorde“ werden im syrischen Strafgesetz anders bewertet als andere Morde. Ein weiteres Beispiel ist die Staatsbürgerschaft: Frauen können ihre eigene Staatsbürgerschaft nicht an ihre Kinder weitergeben. Auch durch gesellschaftliche Konventionen werden Frauen diskriminiert. Als ich mit 25 Jahren heiratete, war ich Diplomatin, beruflich vertrat ich bereits ein ganzes Land. Privat hingegen brauchte ich für meine Heirat die Zustimmung eines männlichen Familienmitglieds. In Syrien hatte ich immer das Gefühl, dass die Situation von Frauen schlecht ist, aber ich wusste nicht, wie ich sie ändern kann.
FANN: Was wollen Sie als Organisation von Deutschland aus konkret erreichen?
Lama Ahmad: Wir möchten Frauen stärken und zur Teilhabe ermutigen – sowohl in Syrien, als auch in der Diaspora hier in Deutschland. Denn die negativen Folgen von Repression und die soziale Ungerechtigkeit sind nicht nur ein Problem in der syrischen Gesellschaft. Sie spiegeln sich auch in der Gemeinschaft der syrischen Flüchtlinge in Deutschland wider. Für uns macht es aber keinen Sinn, nur Frauen zu befreien. Wir müssen die ganze Gesellschaft befreien, wir müssen Männer befreien. Wir müssen über Diktatur, Tyrannei und Menschenrechte im Allgemeinen reden. Ein Feminismus, der nicht auch allgemeine Menschenrechte fordert, wäre wirkungslos. Leider sind die Eliten der syrischen Opposition, was Frauenrechte und Partizipation angeht, nicht besser als Assad. Die wichtigen Positionen sind alle von Männern besetzt. Eines der Ziele der Syrian Feminist Lobby ist es, echte soziale, politische und wirtschaftliche Partizipation von geflüchteten Frauen in Deutschland und in anderen Gastländern zu schaffen. Außerdem arbeiten wir auf einen neuen, modernen, demokratischen syrischen Staat hin. Wir wollen erreichen, dass Frauenrechte in die neue syrische Verfassung aufgenommen werden. Die einzige Chance, die wir haben, ist eine langfristige: die syrische Gesellschaft in der Diaspora zu erneuern. Damit die Menschen entweder in Frieden hier leben und ihren Platz in diesem friedlichen Land finden können. Oder damit sie diese Werte mitnehmen und Syrien damit wiederaufbauen: Demokratie, friedliches Miteinander, gegenseitige Akzeptanz. Akzeptanz ist mehr als Toleranz. Toleranz bedeutet zu denken, dass andere minderwertig sind. Es geht jedoch darum, die Existenz des Gegenübers wirklich zu akzeptieren.

Die ehemalige Diplomatin Lama Ahmad ist mittlerweile in der Syrian Feminist Lobby aktiv. © Ramy Al-Asheq
FANN: Wie arbeiten Sie mit Syrerinnen und Syrern in Deutschland zusammen?
Lama Ahmad: Die Gesellschaft syrischer Flüchtlingsfrauen ist überhaupt nicht homogen. Dazu gehören Frauen, die unabhängig, gut ausgebildet und sehr motiviert sind, und Frauen, die in geschlossenen konservativen Parallelgemeinschaften leben, deren Bewegungsfähigkeit sehr begrenzt ist. Ich treffe mich regelmäßig mit einer Gruppe syrischer Frauen in einer Asylunterkunft. Sie sind schwer zu erreichen, vor allem für deutsches Personal in den Flüchtlingsunterkünften. Sie kommen aus armen Regionen, können nicht Arabisch lesen und schreiben. Manche Männer lassen es nicht zu, dass ihre Frauen den gemischtgeschlechtlichen Integrationskurs besuchen. Zudem sind Schwangere von der Teilnahmepflicht befreit, deshalb sorgen manche Männer gezielt dafür, dass ihre Frauen Jahr für Jahr wieder schwanger werden. Ich treffe mich mit den Frauen, wir kochen und reden über Alltägliches. Ich erzähle ihnen indirekt, was Freiheit bedeutet und welche neuen Chancen sie in ihrer neuen Heimat finden können. Zu einem unserer Treffen kam ich mit einer syrischen Zahnärztin, die in Deutschland ein Praktikum macht. Ich wollte zeigen: Auch syrische Frauen können hier erfolgreich sein. Doch ich bin überzeugt, dass diese Arbeit nicht effektiv sein kann, wenn nicht auch jemand mit den Männern spricht. Mit der SFL planen wir eine Workshop-Reihe zu Frauenempowerment als Teil des Integrationsprozesses in einem Gastland. Die Seminare wollen wir in Flüchtlingslagern in Deutschland anbieten. Unser Ziel ist es, Frauen zu helfen, mehr über ihre Rechte zu erfahren und sie langfristig zu fördern. Mit den Workshops wollen wir Multiplikatorinnen und Multiplikatoren schulen: Frauen lernen mehr über ihre Rechte und werden befähigt, dieses Wissen in ihrem Umfeld zu verbreiten. Die Trainerinnen und Trainer sind starke Persönlichkeiten mit guten Beziehungen zu anderen Frauen.
FANN: In dem Projekt „Augenhöhe” geben Sie Integrationskurse für syrische Geflüchtete. Welche Erfahrungen machen Sie dort?
Lama Ahmad: Das Ziel von diesem Modellprojekt ist es, ein Format zu schaffen, bei dem Geflüchtete über die Werte einer offenen Gesellschaft diskutieren können – auf Augenhöhe. Die Teilnehmenden sind gut ausgebildete Männer und Frauen. Neben Themen wie Identität, Integration, Rechtsstaatlichkeit, Meinungs- und Glaubensfreiheit, Extremismus und Antisemitismus besprechen wir auch Gender Equality, sexuelle Orientierungen und Maskulinität. Das ist für die meisten neu und ich erwartete eine Abwehrhaltung bei den Teilnehmenden, aber die Reaktionen sind sehr positiv. Wir versuchen hier ebenfalls, die Teilnehmenden zu Multiplikatorinnen und Multiplikatoren auszubilden, sie müssen selbst Vorträge zu den erlernten Themen vorbereiten. Aber bisher haben nur wenige das Thema Frauenrechte gewählt. Diese Kurse werden vom Bundesprogamm „Demokratie leben“ gefördert.
FANN: Sie arbeiten als Referentin den CDU-Abgeordneten Dierk Homeyer im Brandenburger Landtag. Was sind Ihre Erfahrungen in der Arbeit für eine Partei, die das Asylrecht zunehmend aushöhlt und die für eine konservative Frauenpolitik steht?
Lama Ahmad: Ich bin kein Parteimitglied und spreche deswegen hier nicht über die Bundespolitik. Aber ich finde, dass diese Beschreibung nicht zutrifft. Es ist bekannt, dass die Asylpolitik und das Recht auf Asyl in Deutschland sehr umstrittene Themen sind. Das gilt besonders innerhalb der CDU, wo weiterhin grundlegende Debatten darüber geführt werden. Aber im Team des Abgeordneten Dierk Homeyer fand man es besonders wichtig, mich als syrische geflüchtete Frau und aktive Feministin als Referentin zu haben. Ich bin die erste syrische Person, die für den brandenburgischen Landtag arbeitet. Letztes Jahr wurden während einer Pressekonferenz der CDU zum neuen Integrationsgesetz in Brandenburg alle meine Empfehlungen vorgelesen. Bei den meisten davon ging es um das Empowerment geflüchteter Frauen. Im Moment kann ich wohl nicht die Politik eines ganzen Landes beeinflussen, aber ich bin sicher, dass ich vor Ort wichtige Dinge bewirken kann. Hier habe ich die Chance bekommen, mich einzusetzen für das, wofür ich stehe.
Eine frühere Version des Interviews ist im feministischen Magazin an.schläge (Ausgabe VII/2018) erschienen.