Mohammad Shahrour ist einer der umstrittensten zeitgenössischen Islamwissenschaftler. Manche betrachten ihn als ultimativen Reformer, als eine Art „Martin Luther des Islam“. Andere halten ihn für einen Ketzer und Abtrünnigen, der den Koran so uminterpretiert, dass er zu westlichen Ideen passt. Besonders die traditionelle islamische Rechtswissenschaft stößt sich an seinen Thesen. Shahrour wurde 1938 in Damaskus geboren. Er studierte Bauingenieurwesen und lehrte einige Jahre an der Damaszener Universität. 1990 erschien seine erste Veröffentlichung, Das Buch und der Koran – Eine moderne Interpretation, die in der islamischen Welt kontrovers diskutiert wurde. Es folgten weitere Bücher über Staatswesen, Wertesystem und Rechtswissenschaft im Islam. FANN hat Mohammad Shahrour zum Verhältnis von Kunst und Religion befragt.
FANN: Islamische Religionsgelehrte haben Auszüge aus dem Koran und der Sunna herangezogen, um ein Verbot der Künste zu rechtfertigen. Sie hingegen sind der Überzeugung, dass der Islam genau das Gegenteil verlangt. Wie begründen Sie das?
Mohammad Shahrour: Der Hauptgrundsatz des Islam ist, dass das Verbotene („haram“) klar definiert und von Gott gesetzt ist. Im Gegensatz dazu ist das Erlaubte („halal“) nicht definiert und von der Interpretation der Menschen, den Vorgaben der Gesellschaft und dem geltenden Recht abhängig. Im Koran findet man keine Stelle, die die Kunst verbietet. Es gibt nur 14 verbotene Taten und zu denen gehören die Künste nicht. Im Laufe der Zeit haben es sich die Rechtsgelehrten zur Aufgabe gemacht, den Menschen das Leben schwer zu machen und in einen ganzen Strauß Sünden zu verwandeln, die man kaum vermeiden kann. Sie haben Gott als Sadisten dargestellt, der unsere Übertretungen zählt und es genießt, uns zu foltern. Es ist also keine Überraschung, dass die Künste „haram“ sein sollen, wenn doch alles, was den Menschen glücklich macht, angeblich „haram“ ist.
Wenn wir die Heilige Schrift lesen, entdecken wir einen anderen Islam, in dem die Seele den Grund unserer Menschwerdung darstellt, jedoch nicht den unserer Existenz. Durch seine Seele unterscheidet sich der Mensch von den anderen Geschöpfen. Er zeichnet sich aus durch seine Fähigkeit zu denken, seine enge Bindung an die Sprache und seine Gabe, abstrakte Konzepte zu entwickeln, wie z.B. Wissen oder Ästhetik, die mit dem Bewusstsein für die eigene Umgebung verbunden sind. Die Künste sind als Ausdruck dieser Ästhetik entstanden. Je stärker das Bewusstsein sich entwickelt, desto stärker entwickeln sich seine Ausdrucksmittel. Es gibt kein Volk auf dieser Erde, das nicht singt und tanzt. Macht es Sinn, dass Gott im Menschen einen bestimmten Instinkt anlegt und dann Regeln aufstellt, die diesem Instinkt zuwiderlaufen?
Von der traditionellen islamischen Rechtswissenschaft wurden Musik und Gesang verboten, weil sie als „Zeitverschwendung“ galten. Das ist eine Verfälschung von Gottes Wort und zeugt von Unkenntnis über die wahre Bedeutung des Wortes „Zeitverschwendung“. Bildhauerei und Malerei wurden verboten, weil sie angeblich der Erschaffung von Götzen dienen. Das ist Unsinn. Warum sollte ich, wenn ich die Mona Lisa sehe, plötzlich anfangen, sie zu verehren? Das Abbildungsverbot, wie es heute in den islamischen Künsten gilt, gab es ursprünglich nicht. Es wurde erst später unter dem Einfluss des Judentums eingeführt.
FANN: Der Politikwissenschaftler Hamed Abdel-Samad behauptet, dass Mohammed besessen davon gewesen sei, die Ähnlichkeit zwischen Koran und Dichtung zu widerlegen. Außerdem macht seit Jahrhunderten die Behauptung die Runde, dass Mohammed den Dichter Ka’b ibn al-Aschraf ermordet habe, weil der ihn angeblich geschmäht hat. Was ist Ihre Meinung dazu?
Mohammad Shahrour: Den Dichtungscharakter der Heiligen Schrift zu verneinen, ist meiner Ansicht nach sehr wichtig. Die frühen Araber haben den offenbarten Text als linguistisches Wunder betrachtet und Gott so zum direkten Konkurrenten der Dichter gemacht. Die poetischen Elemente wurden von ihnen explizit anerkannt. Das Problem dabei ist folgendes: Der Dichtung mangelt es an Genauigkeit, schließlich zielt sie ja nicht auf eine wahrheitsgemäße oder widerspruchslose Darstellung ab. Im Gegenteil: Sie ist voller Fantasie, Bilder und Vergleiche. Die Heilige Schrift ist aber kein Gedichtband, das Wunder ihrer Entstehung liegt nicht auf linguistischer Ebene. Es gründet in der Genauigkeit der Worte und der Wahrheit der Weissagungen. Ich persönlich kann ohne Übertreibung und nach 50 Jahren Forschung sagen, dass der Koran die Genauigkeit eines Newton und die Beredsamkeit eines Shakespeare in sich trägt.
Um zur Theorie um die Ermordung Ka’b ibn al-Aschrafs zu kommen: Nicht alles, was wir in Mohammed Biografie lesen, ist auch richtig. Es kann nicht sein, dass er den Befehl gegeben hat, Ka’b ibn al-Aschraf zu töten, nur weil der ihn angeblich geschmäht hat. Mohammed hat schlimmere Beleidigungen ausgehalten. Mit Dichtung hatte dieser Mord also nichts zu tun.
FANN: Sie haben einmal gesagt, dass die arabische bzw. muslimische Gemeinschaft Millionen Dichter produziert hätte, aber keinen Wissenschaftler und keine Wissenschaftlerin. Als Grund haben Sie die „arabische Mentalität“ angeführt. Denken Sie nicht, dass Sie zu stark verallgemeinert und zentrale Probleme ignoriert haben, wie z.B. die Auswirkungen von Diktaturen, Armut, Ignoranz und Kolonialismus auf die arabische Welt?
Mohammad Shahrour: Leider sind wir eine abgehängte und krisengebeutelte Weltregion. Gott hat uns zwar die Ehre erwiesen, im Diesseits und Jenseits Botschafter seiner Barmherzigkeit zu sein. Wir aber haben seine Botschaft gegen eine erfundene, rassistische Religion eingetauscht, die das Andere nicht akzeptiert, die bloße Nachahmung dem selbstständigen Denken vorzieht, das Patriarchat als Gottes Willen betrachtet und den Gehorsam einem Tyrannen gegenüber in Anbetung verwandelt. Deshalb waren wir prädestiniert dazu, in der Kolonialzeit ausgebeutet zu werden, zu verarmen und ignorant zu werden. Wenn man in der arabischen Welt nach den Wissenschaften fragt, kommen sie einem mit Rechtsgelehrten und Imamen. Dieses Umfeld ist überhaupt nicht geeignet für die Schaffung von Wissen! Der Islam, der Mohammed geoffenbart wurde, ist ganz anders. In ihm wird Freiheit wertgeschätzt. Verschiedenheit ist die Regel Gottes unter den Geschöpfen, Entwicklung ist der Kern ihrer Rolle in der Welt. Wenn wir das nicht erkennen, werden wir eines Tages aussterben, ohne dass es irgendwem leidtäte.
FANN: Welche Rolle sollte der Kunst also zukommen – im Allgemeinen und in den arabischen Ländern?
Mohammad Shahrour: Ich glaube, dass jede Nation auf ihre Lyriker, Künstler und Schriftsteller stolz sein sollte, genau wie sie es auf ihre Mathematiker, Physiker, Ärzte und Ingenieure ist. Sie alle sind intellektuelle Erbauer der Zivilisation. Wenn wir die Religion als ein Mittel betrachten, den Menschen Freude zu bereiten – wie viel Freude haben dann die Sängerinnen Fairuz und Umm Kulthum den Menschen gemacht! Wie oft haben Nizar Qabbani und Mahmud Darwish unsere Gefühle in die schönsten Worten gekleidet! Gerade heutzutage haben wir diese Schönheit bitter nötig, um die Hässlichkeit auszugleichen, die von Gewaltherrschaft, Armut und Ignoranz hervorgebracht wird. Vielleicht kann die Kunst unsere Seele schöner und reiner machen, damit wir zu unserer Menschlichkeit zurückfinden. So wie es unserer Rolle als Erben Gottes auf Erden angemessen ist.
Übersetzung: Ibrahim Mahfouz

Lyriker, Journalist und Chefredakteur des FANN Magazins.