Bittet man sie darum, sich selbst vorzustellen, sagt Negar Tahsili, sie sei Erfinderin. Weder Filmemacherin noch Künstlerin also, sondern Erfinderin – und das sei kein Beruf, fügt sie hinzu. Negar Tahsili zeichnet, malt, fotografiert, arbeitet mit Bewegtbild und veranstaltet Performances. Doch ihr gehe es primär nicht darum, Kunstwerke zu produzieren, sondern immer etwas Neues hervorzubringen. Indem sie Fotografien aus der Zeit der Revolution im Iran manipuliert, erfindet sie zum Beispiel neue Bilder. Und in ihrem letzten Videoprojekt Private P.Art (2014) schafft sie ein neues Konzept von Kunstgalerie, indem sie fünf iranische Künstler und Künstlerinnen vorstellt. Aber Erfinderin ist Negar Tahsili auch im engeren Sinne. Ein Gerät zum Desinfizieren von endoskopischen Instrumenten, das sie als Abschlussprojekt ihres Industriedesign-Studiums in Teheran entworfen hatte, konnte sie sich patentieren lassen.
Kunst als Erfindung zu verstehen ist grundlegend für Negar Tahsilis Schaffen. Davon erzählt sie im Interview, sowie von ihrer Tätigkeit als unabhängige Filmemacherin und Kunstschaffende im heutigen Iran und von dem exotisierenden Blick des Westens auf iranische Kunst und Filme.
FANN: Ihr letztes Filmprojekt Private P.Art bezeichnen Sie nicht als Film, sondern als virtuelle Kunstgalerie. Was bedeutet das?
Negar Tahsili: In Private P.Art geht es um fünf iranische Künstler und Künstlerinnen, die sich in ihrer Arbeit mit den Themen Gender und Sexualität befassen, und aufgrund der im Iran geltenden Einschränkungen ihre Werke nicht öffentlich ausstellen oder ihrer Tätigkeit nicht nachgehen können. Meine Idee war, eine virtuelle Kunstgalerie zu erfinden. Statt Räumlichkeiten und Beleuchtung gebe ich ihnen Zeit, um über sich selbst und ihre Kunstwerke zu sprechen. Der in Zeit verwandelte Raum hat für mich einen philosophischen Wert. Er ermöglicht es, in 68 Minuten fünf verschiedene Kunstschaffende zu präsentieren. Deswegen verstehe ich Private P.Art nicht als Film, sondern als Galerie oder Sammelausstellung.

Negar Tahsili, Filmausschnitt aus „Der nackte König“ © Andreas Hoessli
FANN: Die Themen Gender, Sexualität und Patriarchat standen schon immer im Fokus Ihres künstlerischen Schaffens.
Negar Tahsili: Als ich noch am Anfang meiner Karriere stand, habe ich als Dolmetscherin im Rahmen eines Filmprojekts zum Thema Gender gearbeitet. Das war mein Einstieg in diesen Themenkomplex und der Anstoß, selbstständig weiter zu recherchieren. So habe ich Gespräche mit einer Psychologin geführt, die berichtete, dass viele ihrer Fälle gerade mit Genderfragen zu tun hätten. Bald verstand ich, dass wir im Iran aufgrund der Einschränkungen und der strikten Geschlechtertrennung über sehr begrenzte Informationen zum Thema Gender verfügen. Das führt dazu, dass wir kein richtiges Bewusstsein dafür entwickeln können. So begriff ich die Wichtigkeit dieser Thematik und begann, mich damit intensiv in meinen Werken auseinanderzusetzen. In meinem ersten Filmprojekt Wee-men or women? geht es zum Beispiel um das Sicherheitsbedürfnis von Frauen. Indem wir die Fahrerin eines Frauentaxis in Teheran begleiten, wird hinterfragt, ob es ein genderspezifisches Sicherheitsbedürfnis gibt, und ob die Geschlechtertrennung zur Sicherheit von Frauen beiträgt oder die Problematik im Gegenteil nur weiter verschärft.
Wir wurden von Anfang an gebremst und haben deshalb keine Ahnung, wie man „rennt“. Jedoch haben wir iranischen Künstler und Künstlerinnen gelernt zu „jonglieren“.
FANN: Als unabhängige Filmemacherin und Kunstschaffende im Iran sind Sie mit vielen Herausforderungen konfrontiert. Wie gehen Sie damit um?
Negar Tahsili: Im Iran sind wir die vielen Einschränkungen und Regeln gewohnt. Wir wurden von Anfang an gebremst und haben deshalb keine Ahnung, wie man „rennt“. Jedoch haben wir iranischen Künstler und Künstlerinnen gelernt zu „jonglieren“, um weiter kreieren zu können. Darin sehe ich auch Chancen. Würden wir klettern, wäre der Iran der Mount Everest. Den Gipfel zu erreichen ist sehr schwierig, aber wenn das gelingt, wenn man also einen Film oder etwas anderes erschafft, steht man allein da oben. Das ist auch der Grund, weshalb der Iran mich zur Kunstschaffenden macht. Manchmal setze ich meine Projekte im Ausland um, aber es geht darin immer um mein Land. Ich habe keine Geschichte außerhalb des Irans zu erzählen.
FANN: Was bedeutet für Sie, unabhängig in Ihrem künstlerischen Schaffen zu sein?
Negar Tahsili: Das bedeutet, dass ich mit keiner Stiftung oder Organisation im Iran verbunden bin, also kein Geld von ihnen bekomme. Mir ist es sehr wichtig, aus einer reinen Quelle zu schöpfen. Ich habe mich nie um Finanzmittel für meine Projekte beworben, weder im Iran noch im Ausland. Nie habe ich einen Mitgliedschaftsantrag an einschlägige Verbände geschickt. Meine bisherigen Filme Wee-men or women? und Private P.Art kamen ohne Budget und nur dank der Unterstützung einzelner Künstler und Künstlerinnen, die an meine Projekte glaubten, zustande.
FANN: Hinzu kommt, dass Sie Ihre Filme und Kunstwerke im Iran nicht öffentlich zeigen dürfen.
Negar Tahsili: Meine Filme in privaten, statt öffentlichen Vorführungen zu zeigen, heißt für mich, sie direkt zu den Menschen nach Hause zu bringen. Das halte ich für viel effektiver. Aber selbst meine Werke nicht zu zeigen, ist für mich Kunst. Wenn ich auf Kunstmessen meine Werke nicht ausstelle, setze ich ein Zeichen des Protests, das für mich einem Kunstwerk entspricht. Zuletzt habe ich meine Arbeiten aus einer Ausstellung in Tunesien zurückgezogen, weil ich das Gefühl hatte, dass die Institution nicht sauber war. Aus demselben Grund arbeite ich nicht mit Stiftungen im Iran zusammen. Ich kreiere nicht für sie, und das ist Kunst. Ich bin der Meinung, dass Kunst heutzutage nicht zwingend konkrete Kunstwerke bezeichnen muss. Oft geht es darum, nicht zu kreieren oder nicht zu zeigen.
Künstler und Künstlerinnen verkaufen ihr Blut, Kuratoren und Kuratorinnen setzen einen Preis darauf. Wir iranischen Kunstschaffenden müssen zudem liefern, was der Westen von uns verlangt.
FANN: In Deutschland wurden Ihre Filme zwar auf Filmreihen und Festivals gezeigt, ins Kino kamen sie aber nicht. Wie erleben Sie das?
Negar Tahsili: Viele Kuratoren und Kuratorinnen kommen in den Iran und wählen Filme für ihre Festivals in Europa und den USA aus, weil wir als exotisch gelten. Aber nur selten zeigen Kinos im Westen unsere Filme. Es gibt meistens kein ehrliches Interesse an unserer Arbeit, weil sie sich nicht verkaufen lässt. Aus demselben Grund liefen meine Filme nicht in deutschen Kinos. Ich bin wie eine Kaffeebohne in der Parfümerie. Wenn man in die Parfümerie geht, kauft man Chanel und keine Kaffeebohnen. An Letzteren riecht man, um die anderen Gerüche loszuwerden.
FANN: Dieser Exotisierung treten Sie aktiv entgegen.
Negar Tahsili: Meine Zeichnungsserie B+ zeigt sehr feine Subjekte, wie zum Beispiel Vögel, Pflanzen und Fische. Diese gelten als exotisch, weil sie scheinbar nicht im Geringsten politisch sind. Als ich sie ausgestellt habe, habe ich den Iran in meinem einleitenden Vortrag nicht als „das Land von Persepolis“ bezeichnet, sondern als das Land, in dem der Organhandel legal ist. Ich habe geschildert, dass man dort die eigene Niere oder das eigene Blut sogar auf Instagram verkaufen kann. Dann habe ich die Besucher und Besucherinnen zu den Zeichnungen begleitet und ihnen erklärt, dass ich sie unter anderem mit meinem eigenen Blut gezeichnet habe. Das Publikum war verwirrt, zum Teil schockiert. Schließlich habe ich die anwesenden Kuratoren und Kuratorinnen darum gebeten, einen Preis auf meine Kunstwerke zu setzen. Dadurch wollte ich nicht nur Exotisierungsversuchen widerstehen, sondern auch offenlegen, wie die Kunstwelt überall funktioniert, auch in Europa. Künstler und Künstlerinnen verkaufen ihr Blut, Kuratoren und Kuratorinnen setzen einen Preis darauf. Wir iranischen Kunstschaffenden müssen zudem liefern, was der Westen von uns verlangt. Mit uns wird gespielt, aber viele von uns lassen das längst nicht mehr zu.