Literatur ist nicht nur das, was sich zwischen zwei Buchdeckeln befindet. Literatur sind Lesungen, Diskussionen, Austausch über veröffentlichte und unveröffentlichte Texte. Literatur ist Lyrik, Prosa, Dramatik, aber zeigt sich auch in experimentellen Formen. Für die Macher*innen des ersten Unabhängige Lesereihen Festivals mit der prägnanten Abkürzung „ULF“ ist Literatur auch soziale Praxis. Was das bedeutet, zeigen sie vom 12. bis 15. September in Nürnberg mit Lesungen von mehr als 100 Autor*innen.

Das Team des Unabhängige Lesereihen Festivals, © Mina Reischer

Das Spektrum ist breit. Die Schweizer und Stuttgarter Reihen „Sofalesungen“ und „zwischen/miete“ setzen auf intime Formate in Wohngemeinschaften oder Werkstätten, während die Nürnberger Reihe „Roy – Literarisches bei Schnaps“ zum gemeinsamen Trinken und Diskutieren einlädt.

Die Vielfalt der Formate spiegelt die Vielfalt der 25 beteiligten Lesereihen aus Deutschland, Österreich und der Schweiz wider. Jede Reihe kuratiert ihre Lesung selbst. „Wir haben eine antihierarchische Arbeitsweise“, erzählt Chris Möller aus dem Festivalteam. Statt in Konkurrenz zu treten, gehe es bei dem Festival darum, der Szene erstmalig ein gemeinsames, öffentliches Forum zu geben, so die Literaturwissenschaftlerin. Ihre Lesereihe „Kabeljau & Dorsch“ hat für das Festival eine Gameshow vorbereitet, die den Literaturbetrieb parodiert. „Es geht um Aufgaben, die junge Autor*innen auf dem Weg zum Ruhm lösen müssen“, verrät Möller.

Jeder soll kommen können

Im Gegensatz zu anderen kulturellen Bereichen – wie Oper oder Theater – gebe es für zeitgenössische Literatur kaum Fördergelder, kritisiert der Autor und Literaturvermittler Tillmann Severin, der sich ebenfalls in dem siebenköpfigen Organisationsteam engagiert. Der Begriff „freie Literaturszene“ habe sich bisher noch nicht etabliert. Das will der „Verein Unabhängige Lesereihen“ ändern, der sich 2018 aus einem schon länger existierenden Netzwerk heraus gegründet hat, um kulturpolitische Themen zu diskutieren und bessere Lebens- und Arbeitsbedingungen für Autor*innen zu fordern. Eine Forderung des ULF-Teams ist, dass Leute, die in der freien Szene Projekte organisieren, angemessen bezahlt werden. Das könne nur über öffentliche Förderungen funktionieren, sagt Chris Möller. Denn ein Grundsatz der freien Lesebühnen sei, niedrigschwellige Angebote zu machen. „Viele Lesereihen haben das Selbstverständnis, dass sie keinen Eintritt nehmen. Wir wollen, dass jeder kommen kann. Wirklich jeder“, betont die Festival-Organisatorin.

Lesung in Berlin

Lesung in Berlin 2019, © Marco Lehmbeck

Der inklusive Charakter der Lesebühnen gilt nicht nur für das Publikum – sondern auch für die Vortragenden. Autor*innen, die nicht auf Deutsch schreiben, erkennt das ULF-Team ganz selbstverständlich als Teil der Szene an. Beim ULF sind mehrere mehrsprachige Reihen zu Gast – etwa die „Hamburger Hafenlesung“ und „artiCHOKE“ aus Berlin, die unter anderem Texte auf Türkisch, Ungarisch und Portugiesisch präsentieren. Auch das Portal „Weiter Schreiben“ stellt sich vor. Es ermöglicht Autor*innen, die im Exil leben, mit in Deutschland etablierten Autor*innen zusammenzuarbeiten sowie ihre Texte auf der Originalsprache und in Übersetzung zu veröffentlichen. „Der sogenannte, deutschsprachige Raum ist nicht nur deutschsprachig“, betont Tillmann Severin.

Junge Literatur, die mehr wagt

Beim ULF sollen Stimmen zu Wort kommen, die im herkömmlichen Literaturbetrieb schwer Gehör finden. Die Berliner Reihe „fiction canteen“ beispielsweise fördert unter anderem Autor*innen, die sich als LGBTQI* identifizieren, und solche mit unterschiedlichen körperlichen Fähigkeiten. Auch inhaltlich und ästhetisch will das ULF-Team zeitgenössische, „junge“ Literatur zeigen, die mehr wagt als der etablierte Literaturbetrieb. „Vielleicht haben wir einfach eine andere Flapsigkeit oder einen anderen Spieltrieb oder eine andere Offenheit gegenüber anderen Künsten“, überlegt Chris Möller.

Zentraler Festivalort ist das Nürnberger Kulturzentrum Z-Bau. Ein Grund für die Standortwahl sei gewesen, dass es in Nürnberg zwar spannende literarische Initiativen, aber bisher wenig Vernetzung nach außen gebe, so Möller. „Nürnberg ist ein Ort, der auf der literarischen Landkarte kaum vorkommt.“

Gefördert wird ULF unter anderem von der Kulturstiftung des Bundes. Ob und wie es nach dem Festival weitergeht, ist unklar. „Nur, weil uns einmal jemand Geld gegeben hat – was uns sehr freut – heißt das noch gar nichts“, sagt Möller. Zumindest könnte der große Auftakt als Inspirationsquelle für weitere, kleinere regionale Veranstaltungen dienen.

Logo ULF

© Susanne Wohlfart