Mehr als ein halbes Jahrhundert nach seinem Tod ist Albert Camus’ Haltung zum Algerienkrieg und zur anschließenden Unabhängigkeit von Frankreich eine einzige Kontroverse. So wird heftig über die Frage gestritten, ob Camus, der 1913 in Mondovi (heute Dréan) im damaligen Französisch-Nordafrika geborgen wurde, ein Kolonialschriftsteller war. Auf der anderen Seite wird ebenso ausdauernd darüber diskutiert, ob man Camus nicht eigentlich als algerischen Schriftsteller bezeichnen könne.

Auch die französische Literaturwissenschaftlerin Agnès Spiquel, die Mitherausgeberin von Camus’ Gesamtwerk im Gallimard Verlag und Vorsitzende der französischen Gesellschaft für Camus-Studien ist, hat sich mit dem Thema auseinandergesetzt. Im Interview erklärt sie, warum Camus nicht versuchte, den Standpunkt der Einheimischen einzunehmen, und was seine politische Vision für geeintes Algerien war.

FANN: Wenn Kritik an Camus’ Einstellung zum Algerienkrieg geübt werden soll, wird oft sein angeblicher Ausspruch „Ich glaube an die Gerechtigkeit, aber noch vor der Gerechtigkeit verteidige ich meine Mutter“ angeführt. Auch wird die Unsichtbarkeit der Algerierinnen und Algerier in seinen Werken bemängelt. War Camus für den Erhalt von Französisch-Nordafrika?

Agnès Spiquel: Lassen Sie uns zuerst über den Satz reden, den Camus in Stockholm von sich gegeben haben soll. Es ist eindeutig, dass er hier von einer Gerechtigkeit spricht, die mit Gewalt durchgesetzt wird. Für Camus rechtfertigt der Zweck nicht die Mittel. Wegen der Gewalttätigkeit ihrer Mittel hatte die algerische „Nationale Befreiungsfront“ in Camus’ Augen den eigenen Zweck entehrt und Zweifel an dem Regierungssystem gesät, das sie nach der Unabhängigkeit aufbauen wollte. Wenn Camus von seiner „Mutter“ spricht, meinte er nicht nur seine leibliche Mutter, sondern alle unschuldigen Zivilisten, die wie sie der Gewalt zum Opfer fielen. Später hat er die Methoden der französischen Armee explizit verurteilt, z.B. im Vorwort zu seinen Algerischen Chroniken… Was die Unsichtbarkeit der einheimischen Bevölkerung in seinen Werken angeht: In Der Fremde zeichnet Camus kein Bild von Algerien, sondern das eines Weißen, der in einem europäisch geprägten Viertel von Algiers lebt. In der Kolonialzeit war eine derartige Rassentrennung in den Städten durchaus üblich. Camus hatte verstanden, dass er nicht für die Araber oder die Amazigh sprechen konnte. Das hat auch sein Freund Mouloud Feraoun erwähnt. Camus war der Meinung, dass die arabischen und mazirischen Schriftsteller selbst die Perspektive der Kolonisierten darstellen sollten. Das haben sie dann auch getan!

Agnès Spiquel

Agnès Spiquel war Dozentin an den Universitäten von Amiens und Valenciennes.

FANN: Trotzdem stehen die „Araber“ in Der Fremde recht pauschal für alles nicht Europäische. Sie sind gänzlich unpersönliche Geschöpfe. Hätte Camus das nicht auch anders schreiben können?   

Agnès Spiquel: „Araber“ war damals eine gängige Bezeichnung, wie auch „Muslime“ und „Einheimische“. Es gibt aber sehr wohl eine Präsenz des Einheimischen in Camus’ Werken aus den 1950er-Jahren, die nicht so philosophisch wie Der Fremde oder Die Pest sind. Ich meine z.B. Das Exil und das Reich oder das Romanfragment Der erste Mensch. Die Entwürfe zu letzterem deuten darauf hin, dass der Roman vom Algerienkrieg handeln sollte, vor dem Hintergrund der Freundschaft zwischen dem Algerienfranzosen Jacques Cormery und dem Algerier Sadiq.

FANN: Camus glaubte, dass Unterdrückte ein Unrecht begehen, wenn sie sich bewaffnen. Welches andere Mittel hätten das algerische Volk gegenüber seiner Kolonialherren gehabt?

Agnès Spiquel: Camus war eindeutig für ein Ende der Kolonialherrschaft. Es war ihm klar, dass Frankreich alle Versuche der einheimischen Bevölkerung, das bestehende System zu reformieren, zunichte gemacht hatte. Trotzdem stand er der „Nationalen Befreiungsfront“ skeptisch gegenüber, die zunehmend autokratischer agierte und andere Akteure der Unabhängigkeitsbewegung beseitigte. Für Camus war das eine Warnung, was nach der Unabhängigkeit noch kommen würde. Er sah die Einheit Algeriens in Gefahr.

FANN: Wenn Camus heute noch am Leben wäre, was wäre dann seine Meinung zur Unabhängigkeit, zum politischen Islamismus und den vielen Krisen, die Algerien seit 1962 durchlebt hat?

Agnès Spiquel: Camus hätte die Jahre 1960 bis 1962 sicherlich als sehr schmerzvoll erlebt. In Bezug auf die Unabhängigkeit Algeriens hätte er meiner Meinung nach Grundwerte wie Freiheit, Vielfalt und Dialog betont.

FANN: Trotzdem ist Camus für viele algerische Intellektuelle ein Kolonialschriftsteller…

Agnès Spiquel: Ich glaube, dass diese Einstellung absichtlich viele Dinge ignoriert, die Camus in seinen Algerischen Chroniken anspricht. Er hat nicht ein französisches Algerien verteidigt, sondern ein Algerien, in dem Franzosen und Einheimische gleichberechtigt zusammenleben können.

FANN: Ist Camus also ein algerischer Schriftsteller?

Agnès Spiquel: Camus selbst schrieb oft: „Wir, die algerischen Schriftsteller…“ Für ihn umfasste dieses „wir“ alle möglichen Schriftsteller europäischer, arabischer und mazirischer Herkunft. Deshalb ist Camus für mich ein algerischer, ein französischer und ein internationaler Schriftsteller zugleich.

Übersetzung: Ibrahim Mahfouz