2014 gelang es „Caesar” – das ist der Deckname eines Überläufers der syrischen Armee – 55.000 Fotos von Gefangenen, die vom syrischen Regime zu Tode gefoltert worden waren, außer Landes zu schmuggeln. Diese Fotos beweisen den Mord an 11.000 Personen, die kein Gerichtsverfahren bekommen haben noch überhaupt angeklagt worden sind. Sie hatten keine Möglichkeit, sich und das grundlegendste ihrer Menschenrechte, das Recht auf Leben, zu verteidigen. Die Bilder sorgten in den USA und Europa für Aufsehen. Im UN-Sicherheitsrat wurde ein Sonderausschuss eingerichtet. Man glaubte, die Macht der Beweise werde dazu führen, dass der syrische Präsident Baschar al-Assad zusammen mit seinen Soldaten und Offizieren wegen Kriegsverbrechen zur Rechenschaft gezogen werden würde.

Internationale Medien beschäftigten sich mit den Bildern der Opfer, Rechtswissenschaftler mit den ungeheuren Vergehen des Regimes und seiner Geheimdienstler. Ärzte analysierten die verschiedenen Stufen der Folter, vom Aushungern über das Ausreißen, Abschneiden und Brechen bis zum Tod. Trotz alledem hatte das Ganze keine Konsequenzen. Es gab keine Gerichtsverhandlung und keine Anklage. Das syrische Regime bleibt Mitglied der Vereinten Nationen und darf dort wie üblich sprechen.

Die Ausstellung der Opfer wird zu einer Art Kunstausstellung

Seitdem sind die Caesar-Fotos als Wanderausstellung von Stadt zu Stadt gezogen. Sie beweisen die Heldenhaftigkeit desjenigen, der die Leichen der Opfer fotografierte. Er hat es geschafft, dem Regime zu entkommen und gemeinsam mit seiner Familie das Land zu verlassen. Tausende von Opfern hingegen erhielten keinen Tropfen Gerechtigkeit oder Gnade, ja noch nicht einmal einen Tropfen Wasser.

Ihre Ausstellung ist zu einer Art Kunstausstellung geworden. Derweil gehen die Mörder ihren Geschäften nach und entwickeln ihre Fähigkeit, Menschen zu Tode zu foltern, weiter. Zugleich wollen die Familien der Opfer diese Fotos aus ihrem Gedächtnis löschen, damit sie nicht im Schlaf von den grauenvollen Bildern ihrer Söhne heimgesucht werden, die um einen Tropfen Gerechtigkeit, Gnade oder Wasser betteln.

Baschar al-Assad Karikatur

© Hani Abbas

Die Caesar-Fotos waren nicht allein ihrer Reise. Mit ihnen reisten Dokumentarfilme über Folter in den Gefängnissen der Geheimdienste, ebenso wie Berichte von Überlebenden, die Amnesty International und Human Rights Watch zur Verfügung stellten. Der Versuch, die Verbrechen der syrischen Geheimdienste zu entlarven, die manche als „Jahrhundertverbrechen“ bezeichnen, dauert seit 2014 an.

Viele glaubten, Assad sei endlich in die Falle gegangen und könne einer Verurteilung als Kriegsverbrecher nicht mehr entgehen. Doch es kam anders. Die Angriffe mit Fassbomben, Sarin-Gas und Raketen überstand er unbeschadet. Die Massaker, die ganze Städte in Friedhöfe verwandelten, überstand er ebenfalls unbeschadet. Als könne die Welt nicht glauben, dass ein Augenarzt, der in Großbritannien studiert hat, für ein Grauen dieses Ausmaßes verantwortlich ist oder dass er seinen Untergebenen all diese öffentlichen und verborgenen Verbrechen durchgehen ließe. Die Welt glaubt dem Mörder nicht, doch den Opfern glaubt sie auch nicht.

Papieren glaubt man bekanntlich mehr als Opfern

Vor einigen Wochen sandte das syrische Regime eine Liste an das Bürgeramt von Darayya, einem Vorort von Damaskus. Auf ihr standen die Namen tausender Gefangener, die in der Haft eines angeblich natürlichen Todes gestorben sind, z.B. an Herzversagen, einem Schlaganfall oder Nierenversagen. Die medizinischen Berichte erreichten das Bürgeramt ohne die Leichen, die sie beschrieben. Und die Welt schwieg weiter. Es gibt ja schließlich medizinische Berichte und Papieren glaubt man bekanntlich mehr als Opfern! Angesichts dieses Schweigens sandte das Regime weitere Listen an die Bürgerämter von Aleppo, al-Hasaka, Yabrud und Muʿaddamiyyat asch-Scham. Gestorben waren aus Aleppo 550 Menschen, aus Hasaka 750, aus Yabrud 30. Mu‘addamiyyat asch-Scham verzeichnete 80 Opfer.

Das heißt, das Regime meldete innerhalb von zwei Wochen fast 2.500 Gefangene, die eines angeblich natürlichen Todes gestorben sind. Nachdem die internationale Gemeinschaft vier Jahre lang geschwiegen hat, sagt das Regime ihr nun selbst, dass es Gefangene zu Tode foltert und inhaftierte Kinder, Frauen, Alte und Junge tötet. Assad will damit sagen, dass alle Fotos von Caesar der Wahrheit entsprechen, doch die Weltgemeinschaft glaubt ihm nicht. Assad will sagen, dass ein ganzes Volk unter der Erde Syriens begraben liegt. Doch die Weltgemeinschaft wartet immer noch darauf, dass die Opfer aus ihren Gräbern steigen und sprechen. Denn wie kann es sein, dass ein Augenarzt, der in Großbritannien studiert hat, ein Kriegsverbrecher, Terrorist und Diktator ist? Sie quält Assad, wenn sie ihm nicht glaubt. Sie gönnt den Opfern keinen Tropfen Gerechtigkeit, Gnade oder Wasser.

Eine Frau, deren vier Söhne zu Tode gefoltert worden sind, sagte mir, sie sei erleichtert: „Jetzt haben sie endlich Ruhe. Sie werden nicht weiter gequält.“

Übersetzung: Hannah El-Hitami