Normalerweise erfreut sich die Straße nicht gerade eines ausgezeichneten Rufs. Von „Straßengestank“ über „Straßenkinder“, „Straßenmädchen“ und „Straßenhunde“ bis zum „Straßenjargon“: All diese Begriffe haben negative Konnotationen. In Tunesien war das bis Januar 2011 nicht anders. Die meisten Menschen teilen ihr Umfeld in zwei Bereiche: die Privatsphäre und den öffentlichen Raum. Was beide Bereiche trennt, ist die Straße. Sie ist ein Ort, an dem sich Böses und Gefahren versteckt halten und um deren Sauberkeit sich kaum jemand kümmert. Ein Durchgang, nicht mehr.
Auch die Kunst wurde lange argwöhnisch beäugt. Trotz allem, was über die gesellschaftliche Öffnung nach der Revolution gesagt wurde, ist Tunesien doch ein konservatives Land. Noch immer verbinden viele Menschen Kunst mit „moralischem Verfall“, insbesondere wenn es um Sängerinnen und Sänger oder Schauspielerinnen und Schauspieler geht. Was die bildenden Künste, Theater oder Tanz betrifft, so sind das für viele elitäre Künste, die Intellektuelle zur Unterhaltung von ihresgleichen betreiben.

Graffiti von Zawawla.
Tunesien war also bis vor einigen Jahren keineswegs ein geeigneter Ort für Straßenkunst. Es gab zwar schon vor der Revolution die ein oder andere Aktion, jedoch in sehr beschränkter Form und stets unter Zensur. Meist wurden sie von Akteuren staatlicher Kulturinstitutionen durchgeführt und bewegten sich damit innerhalb der Propaganda des Regimes von Zine el-Abidine Ben Ali. Die wahre Geburtsstunde tunesischer Straßenkunst liegt im Januar 2011. Besonders folgende Gruppen waren daran beteiligt (diese Liste ist zwar unvollständig, enthält meiner Meinung nach aber die innovativsten und einflussreichsten Acts):
Ahl al-Kahf („Höhlenmenschen“): Gegründet 2011 von ehemaligen Kunsthochschulstudenten ist Ahl al-Kahf der politischen Linken und der anarchistischen Bewegung verbunden. Das Kollektiv besitzt verglichen mit anderen Acts die größte Reife. Es macht nicht einfach nur Graffiti, sondern verziert ganze Mauerreihen mit Kunst.

Graffiti von Ahl al-Kahf in Jebiniana, 2012.
Kalaam al-Shaaria („Gerede der Straße“): Dieses Street-Poetry–Projekt wurde 2012 von Majd Mastura, Amin al-Gharbi und Hamdi Majdub initiiert. Die Gruppe organisierte Veranstaltungen unter dem Titel „Salaam“ („Frieden“) und machte sich stark für Lyrik in tunesischer Umgangssprache.
Zawawla (wörtlich auf Tunesisch „arme Leute“ oder „einfache Leute“): Gegründet 2011 von Shahin Birrish und Asama Buajila. Das Kollektiv produziert größtenteils schlichte Graffiti zu Themen wie Preiserhöhungen oder Ausbeutung durch Staat und Kapital. Bekanntheit erlangte Zawawla, als Mitglieder der Gruppe Ende 2012 als erste Street-Art-Künstler in Tunesien rechtskräftig verurteilt wurden.
Fanni ghamnan anni (wörtlich „meine Kunst trotz mir“): 2011 gegründet, 2013 zu einem eigenständigen Kunstverein ausgebaut. Die Mitglieder von Fanni ghamnan anni setzen sich ein für die „Wiederbelebung der tunesischen Straße als Ausdruckssphäre für politische Meinungen sowie für Kunst und Kultur.“ Erreichen wollen sie das durch Kunstworkshops für Jugendliche beider Geschlechter in den ärmeren Gegenden Tunesiens. Bis heute ist Fanni ghamnan anni der beständigste Act – vermutlich weil er sich etablieren konnte, eine klare Agenda hat und über finanzielle Mittel verfügt.

Theateraufführung von Fanni ghamnan anni in Ksar Hellal, 2014.
Gameyat Masrah Alqitar (wörtlich „Theaterzugverein“): Gegründet in der Stadt Gafsa, die historische Berühmtheit durch ihre Gewerkschafts- und Theaterbewegung erlangte. Gameyat Masrah Alqitar arbeitet als klassisches Theaterensemble und nahm in der Vergangenheit an Festivals im gesamten Maghreb teil. Gleichzeitig führt das Ensemble seine Stücke auf den Straßen in den ärmeren Gegenden Tunesiens auf.
Al-fann Selah (wörtlich „Kunst ist eine Waffe“): Gegründet 2015, mehrheitlich von Jugendlichen. Die Konzerte der Gruppe finden auf den Straßen von Tunis statt, mit einfachen Instrumenten und wenig Equipment. Für ihre „nicht genehmigte“ Straßenmusik wurden Mitglieder von Al-fann Selah schon mehrfach verhaftet.

Mitglieder von Al-fann Selah in den Straßen von Tunis.
Nun mag man behaupten, sieben Jahre seien für die Straßenkunst nicht genug, um sich einen Platz in der Geschichte zu erarbeiten. Trotzdem ist es möglich, die Entwicklung dieser neuen Kunstform im Kontext der politischen Lage zu analysieren. Dabei treten besonders zwei Phasen hervor.
Die Phase der Ausbreitung: Januar 2011 bis Oktober 2014
Ohne Zweifel waren die ersten Wochen und Monate nach dem Sturz des Regimes von Ben Ali eine Hochzeit der Straßenmusik. Zum ersten Mal in der modernen Geschichte Tunesiens waren Bürgerinnen und Bürger stärker als die Regierung. Ein Großteil derer, die in der Straßenkunst aktiv wurden, taten das in dieser Zeit. Tunesiens Städte boten ihnen ein riesiges Atelier ohne Mauern und Dächer, der Sicherheitsapparat war eingeschüchtert, das Publikum begeistert und Inspiration gab es ohne Ende.

Öffentliche Lyriklesung von Kalaam al-Shaaria.
Die ersten freien Wahlen aber brachten den Sieg von Islamisten und konservativen Parteien. Ein Schock für viele, die die gesellschaftlichen Verhältnisse von Grund auf umdenken wollten. Der drastische Anstieg von Terroranschlägen und politischen Morden Anfang 2012 verstärkte ihre Angst und das Gefühl, in eine konterrevolutionäre Phase einzutreten. In dieser Zeit kam es zum Zusammenschluss all jener, die in der Straßenkunst aktiv waren, und zur Ausbreitung in den ländlichen Regionen.
Die Phase des Rückgangs: Ende 2014 bis heute
Mit dem Ausscheiden der Islamisten aus der Regierung Anfang 2014 und der Aufnahme eines nationalen Dialogs bildete sich eine technokratische Regierung, die es sich zur Aufgabe machte, die Grundlage für eine stabile Demokratie zu schaffen. Die Ergebnisse der Parlaments- und Präsidentschaftswahlen Ende 2014 stellten einen erneuerten Schock dar. Ehemalige Vertreter des Ben Ali-Regimes gewannen mit komfortablem Vorsprung und einigten sich mit den Islamisten, die auf dem zweiten Platz gelandet waren. Ihre konservative Koalition verfügte über eine absolute Mehrheit im Parlament und konnte somit ohne oppositionelle Kontrolle schalten und walten.
Erschöpft vom politischen Umbruch, von weltanschaulichen Konflikten und Wirtschaftskrisen, von der ständigen Angst vor Terror und Verbrechen ganz zu schweigen, zogen sich viele Bürgerinnen und Bürger in ihre Häuser zurück. Auch der Enthusiasmus der meisten Straßenkünstlerinnen und -künstler schwand dahin. Einige widmeten sich anderen künstlerischen Aktivitäten, andere kümmerten sich um Familie und Karriere. Was übrig blieb, war eine winzige Gruppe, die sich bemühte, den Geist der Straße wiederzubeleben.

Theateraufführung von Gameyat Masrah Alqitar in Sidi Bouzid, 2018.
Drei Faktoren erschweren es, die tunesische Straßenkunst heute adäquat zu beschreiben: die relative Neuheit des Phänomens; die Vielfalt an Ausdrucksformen; das vergängliche Wesen dieser Kunst, das eine tiefergehende und objektive Kritik nahezu unmöglich macht. Trotzdem lassen sich einige grundlegende Aspekte beschreiben: Die meisten Gruppen sind kurzlebig und bestehen kaum länger als ein paar Monate oder Jahre. Viele ihrer Mitglieder sind junge Menschen, für die Straßenkunst ein Ausdruck politischen Widerstands ist und denen es weniger darum geht, die Kunst selbst und ihr Verhältnis zum Publikum neu zu denken. Auf lange Sicht schadet das dieser neuen Form des künstlerischen Ausdrucks.
Andererseits sind die Erfolge der Straßenkünstlerinnen und -künstler nicht zu übersehen. Durch ihre Aktionen haben sie gezeigt, dass Kunst keine Intellektuellendomäne ist, die nur in geschlossener Gesellschaft stattfindet, und dass sich die Straße in einen Ort der Schönheit, Heiterkeit und Freude verwandeln kann.
Übersetzung: Benedikt Römer

Tunesischer Literaturwissenschaftler und Journalist.