Nur sechs Wochen waren nach dem Ende der Dreharbeiten für den Film In den letzten Tagen der Stadt vergangen, als der Aufstand am 25. Januar 2011 auf den Straßen Ägyptens einsetzte. Über zwei Jahre lang hatte Regisseur Tamer El Said seine Heimatstadt Kairo gefilmt und die aufrührerische Atmosphäre jener Zeit mit der Kamera eingefangen. Mit dem Ausbruch der Revolution erhielt das Material plötzlich eine ganz neue Bedeutung. Der Titel des Films, der schon lange vorher feststand, klang auf einmal prophetisch. Doch El Said weigerte sich, die Dreharbeiten zu verlängern, um die Revolution in den Film einzubeziehen. Bis heute ist In den letzten Tagen der Stadt somit höchstwahrscheinlich der einzige Film, der die prekäre Zeit und Stimmung unmittelbar vor dem Ausbruch der Revolution in Ägypten ausdrücklich thematisiert.

Nach mehreren Kurzfilmen und Dokumentationen drehte Tamer El Said mit In den letzten Tagen der Stadt seinen ersten Spielfilm. 2016 feierte er seine Premiere in der Sektion Forum auf der Berlinale. Darauf folgten Vorführungen und Auszeichnungen auf zahlreichen internationalen Festivals. Bis heute konnte der Film in Ägypten jedoch nicht gezeigt werden. Im Interview erzählt Tamer El Said von dem Schmerz, seinen Film in seinem Herkunftsland nicht zeigen zu können, vom Verhältnis zwischen Kunst und Politik und von der Wahrnehmung des ägyptischen Kinos in Europa.

FANN: Was hat Sie zu Ihrem Debütfilm In den letzten Tagen der Stadt inspiriert?

Tamer El Said: Mich hat die Herausforderung interessiert, den Geist einer Stadt in einem zweistündigen Film einzufangen. Außerdem wollte ich meine Beziehung zu meiner Heimatstadt Kairo hinterfragen und verstehen, wie ich ihre komplexe Struktur mit filmischen Mitteln darstellen kann. Ich wusste, was für einen Film ich machen wollte, wusste aber nicht wie. Das habe ich während der Arbeit am Film selbst gelernt. Es gab keinen einzigen Tag, an dem ich mir sicher war, was ich da drehe. Kino ist für mich immer ein Lernprozess. Wenn ich einen Film mache, habe ich nie eine Idee, die ich umsetzen möchte, sondern offene Fragen. Der Film soll dann keine Antworten auf diese Fragen liefern, sondern entspricht der Suche nach möglichen Antworten. Ich glaube, dass genau diese Unsicherheit meinem Debütfilm die richtige Haltung verliehen hat. In den letzten Tagen der Stadt zeugt von einem ehrlichen Versuch, die Realität zu hinterfragen.

FANN: Die Realität, um die es in In den letzten Tagen der Stadt geht, ist die Zeit unmittelbar vor der Revolution in Ägypten.

Tamer El Said: Zwischen 2008 und 2011 war in Ägypten deutlich zu spüren, dass die Dinge nicht so weitergehen konnten und dass deshalb bald etwas Großes passieren würde. Einerseits konnten wir den Wendepunkt kaum erwarten, der einen Neuanfang mit sich bringen würde. Andererseits fürchteten wir uns davor, dass dieses Ereignis uns alles wegnehmen würde, was wir geliebt haben. In den letzten Tagen der Stadt setzt sich gerade mit diesem komplexen, widersprüchlichen Gefühl auseinander, das damals herrschte. Als die Revolution dann ausbrach, waren nur sechs Wochen seit dem Ende der Dreharbeiten vergangen. In den folgenden Jahren habe ich parallel zur Revolution an der Postproduktion gearbeitet. Ich saß in einem Raum und schaute mir das Drehmaterial an, das aus einer vergangenen Zeit stammte. Gleichzeitig hörte ich von der Straße die Weiterentwicklung dessen, was ich auf diesen Bildern sah. Ich lebte also gleichzeitig in zwei verschiedenen Zeiten, wollte aber ehrlich gegenüber dem Kern des Films sein, mich also auf den Moment vor der Revolution konzentrieren. Wir können nicht verstehen, wohin wir gehen, wenn wir nicht verstehen, woher wir kommen. Deswegen habe ich mich dann auch geweigert, als Produzenten und Filmverleiher mich darum baten, die Revolution am Ende des Films hinzuzufügen.

Tamer El Said

© privat

FANN: Würden Sie Ihre Filme als politisch bezeichnen?

Tamer El Said: Jeder Film hat eine politische Seite. Sogar wenn man Politik absichtlich ausschließt, trifft man eine politische Entscheidung. Politik prägt unsere Realität und ist überall präsent. Insofern kann man sie nicht vermeiden, wenn man sich mit der Realität auseinandersetzt. Jedoch sehe ich meine Arbeit nicht als ausdrücklich politisch, weil ich der Meinung bin, dass Kunst nur dann etwas bewegen kann, wenn sie es nicht beabsichtigt.

FANN: Was wollen Sie mit Ihren Filmen bewirken?

Tamer El Said: Was meine Arbeit als Filmemacher ausmacht, ist der Versuch, neue Narrative zu eröffnen. Ich glaube, dass man Menschen dazu ermutigen sollte, die Realität anzuzweifeln und zu hinterfragen, um somit Alternativen zum offiziellen Narrativ zu erlauben. Eine der größten Herausforderungen unserer Zeit, innerhalb wie außerhalb der arabischen Welt, besteht darin, dass wir in Strukturen leben, die uns dazu zwingen, das offizielle Narrativ zu akzeptieren. Dieses offizielle Narrativ schließt Individualität aus und beruht auf Machtdynamiken. Geschichten werden von den Mächtigen erzählt. Die Revolution von 2011 war ein großes Ereignis für Ägypten und die gesamte arabische Welt. Wir haben sie mit unseren eigenen Augen gesehen und sogar mit unseren Handys aufgezeichnet. Nie zuvor konnten Menschen die Realität so leicht selbst dokumentieren wie heute. Und trotz dieses Beweismaterials zwingt uns das offizielle Narrativ eine anderen Version der Realität auf. Das muss sich ändern.

FANN: Bisher konnte In den letzten Tagen der Stadt in ägyptischen Kinos nicht gezeigt werden. Wie erleben Sie das?

Tamer El Said: Meinen Film in Ägypten zu zeigen, war mein größter Traum. Mittlerweile ist er zur größten Narbe geworden, die ich als Filmemacher trage. Der echte Film ist für mich nämlich nicht der Film, den ich mache, sondern der Film, den Menschen sehen. Außerdem kann ich meine Arbeit nur dann weiterentwickeln, wenn ich weiß, was das Publikum von meinen Filmen hält. In den letzten Tagen der Stadt wurde zwar in der ganzen Welt vorgeführt, aber da es sich um einen Film über eine Stadt handelt, hatte ich schon erwartet und gehofft, dass Anwohner und Anwohnerinnen von Kairo ihn sehen können. Ich kann nicht nachvollziehen, warum der Film keine Genehmigung erhält. Die Geschichte spielt ja unter einem Regime, das schon vor acht Jahren endete und dem bereits drei weitere gefolgt sind.

FANN: Wie schätzen Sie die ägyptische Filmlandschaft nach der Revolution ein?

Tamer El Said: Die Revolution hat sich stark auf das ägyptische Kino ausgewirkt. Dieses Ereignis und die Freiheit, die es mit sich brachte, eröffnete neue Möglichkeiten und inspirierte viele Menschen. Seit einigen Jahren profitieren viele junge Filmemacher und Filmemacherinnen zudem von den preiswerten Technologien, die es ihnen ermöglichen, Filme selber zu produzieren. In letzter Zeit sind viele gute Filme in Ägypten entstanden, zum Beispiel Coming forth by day von Hala Lotfy, Poisonous Roses von Ahmed Fawzi Saleh oder Withered Green von Mohammed Hammad. Doch es bleibt heikel für diejenigen, die sich nicht an den Marktregeln des Mainstream-Kinos orientieren wollen, sondern im experimentellen Bereich unterwegs sind. Das ägyptische Kino erfreut sich zwar immer größerer Beliebtheit in Europa, aber das trägt leider nicht zur Stärkung der Szene in Ägypten bei. Viele Filmemacher und Filmemacherinnen arbeiten wegen der politischen Lage im Land unter sehr kritischen Bedingungen. Mit einer Kamera auf der Straße unterwegs zu sein ist heutzutage nicht leicht.