Ihr Besuch war immer ein Ereignis. Wenn mein Onkel Abdullah und meine Tante Aisha, Bruder und Schwägerin meines Vaters, zu uns kamen, zog immer eine große Portion Glamour in unsere deutsche Kleinstadtwohnung mit ein. Sie kamen, ganz klassisch, mit vielen Koffern, die Hälfte davon mit arabischen Lebensmitteln gefüllt, und brachten Geschenke mit. Meine Tante war für mich seit meiner frühsten Kindheit jemand, den ich über alle Maßen bewundert habe. Sie war groß und imposant, trug die vollen schwarzen Haare immer perfekt gefärbt und frisiert wie Umm Kulthum, kam in eleganten Marlenehosen und Schluppenblusen und mit knallrot lackierten Fingernägeln. Sie wird es heute nicht gern hören, aber tatsächlich habe ich später nur ihretwegen überhaupt mit dem Rauchen angefangen. Für mich gab es keinen eleganteren, erhabeneren Anblick als meine Tante, die eine lange, dünne Zigarette mit weißem Filter in ihren manikürten Händen hielt und in unserer Küche rauchte. So wollte ich mal sein, wenn ich mal groß bin.

Mit einem Wort wie „Feminismus“ könnte meine Tante sicherlich nichts anfangen

Meine Tante hat nie eigenes Geld verdient oder einen Beruf ausgeübt. Sie hat sechs Kinder großgezogen, hat inzwischen eine ganze Armee von Enkeln und Urenkeln. Sie raucht nicht mehr und hat auch das Nägellackieren aufgegeben, mit ihren inzwischen knapp achtzig Jahren. Mit einem Wort wie „Feminismus“ könnte sie sicherlich nichts anfangen, vermutlich ist ihr das Konzept völlig fremd. Und von außen betrachtet dürfte kaum eine Feministin dieser Welt meine Tante zu ihresgleichen zählen.

Für mich war meine Tante trotzdem immer der Innbegriff von Macht. Ihre Aura, ihre Persönlichkeit und ihr Durchsetzungsvermögen, die Bestimmtheit, mit der sie ihre Familie bis heute regiert, haben mich immer beeindruckt. Meine Tante ist eine Matriarchin, wie sie im Buche steht. Ihre Macht beschränkt sich natürlich auf den privaten Raum, aber wenn man genau hinschaut, kann man sich da viel abgucken, egal ob man zur Matriarchin geboren ist oder nicht.

Meine Tante besucht all diese Events ihrer „Mädchen“ und unterstützt auch aus der Ferne. Vor allem aber hat sie immer, in jeder Lebenssituation, Partei für ihre Töchter, Schwiegertöchter, Enkelinnen und auch ihre „verdeutschte“ Nichte ergriffen.

In ihrem Text fragt Walaa Kharmanda, ob es sich bei „Feminismus“ um ein westliches Konzept handelt, und zeigt den Kampf um Frauenrechte in der arabischen Welt auf. Meine Tante hat sich nie für Frauenrechte im Allgemeinen stark gemacht. Sie beteiligt sich nie an politischen Diskussionen, das hat sie immer lieber meinem Onkel überlassen, sie verfolgt weder intensiv die Nachrichten noch aktuelle Debatten. Meine Tante ist profund apolitisch. Vielleicht hat das etwas mit ihrer Generation zu tun. Ich habe sie nie gefragt. Dass Frauen für ihre Rechte kämpfen, auch in Saudi-Arabien, findet sie trotzdem immer toll. Auch was wir, ihre „Töchter“, tun – ich mit meinem Schreiben, eine ihrer Schwiegertöchter war aktiv an der Kampagne „Women 2 Drive“ beteiligt, eine andere leitet eine Charity-Organisation für alleinstehende Mütter in Jeddah. Nie wurde jemandem nahegelegt, sie solle sich besser zurückhalten. Nein, meine Tante besucht all diese Events ihrer „Mädchen“ und unterstützt auch aus der Ferne. Vor allem aber hat sie immer, in jeder Lebenssituation, Partei für ihre Töchter, Schwiegertöchter, Enkelinnen und auch ihre „verdeutschte“ Nichte ergriffen. Wie ein Koloss stand und steht sie hinter den Ihren und stärkt ihnen den Rücken. Vielleicht könnte man sie eher als „passive Feministin“ bezeichnen.

Rasha Khayat

Rasha Khayats erster Roman „Weil wir längst woanders sind“ ist 2016 erschienen. © Umar Timol

Auch ich beteilige mich selten an öffentlichen feministischen Debatten. Nicht, weil sie mich nicht interessieren, sondern weil ich das theoretische Werkzeug dazu nicht besitze. Weder bin ich Gendertheoretikerin noch Aktivistin. Mein Haus ist die Literatur, ich glaube an die tiefe Wirkung von Kunst, von Geschichten. Trotzdem würde ich mich ohne mit der Wimper zu zucken als Feministin bezeichnen. In erster Linie, weil ich von Frauen großgezogen wurde, die wahren Naturgewalten gleichen – meiner Mutter, meiner Großmutter und eben meinen arabischen Tanten. Ich kann mir Frauen gar nicht anders vorstellen als eigensinnig, durchsetzungsstark und unabhängig im Denken. Vielleicht hat sich mein eigenes, an Vorbildern orientiertes Selbstverständnis und Wertesystem so ganz intuitiv generiert. Vielleicht kommt mir deshalb der Feminismusdiskurs oft zu verkopft und lebensfern, manchmal gar missionarisch vor – Gendersternchen hier, Judith Butler da.

Roxane Gay erklärt am Beispiel ihrer eigenen Biografie, was sie zu einer „bad feminist“ mit kleinem „f“ macht – nicht der Einsatz als Aktivistin, nicht ein Beharren auf Gendertheorien und Politik, sondern einfach (ja, einfach?) ihr Leben an ihren Vorbildern zu orientieren.

Sollte das Feminismusspektrum daher nicht ausgeweitet werden, auf eine auch privat-praktische Form, die über Vorbilder funktioniert? Die amerikanische Autorin Roxane Gay argumentiert in ihrem Buch Bad Feminist für genau so eine Position. Sie erklärt am Beispiel ihrer eigenen Biographie, was sie zu einer „bad feminist“ mit kleinem „f“ macht – nicht der Einsatz als Aktivistin, nicht ein Beharren auf Gendertheorien und Politik, sondern einfach (ja, einfach?) ihr Leben an ihren Vorbildern zu orientieren. Sie verortet sich selbst ebenfalls außerhalb von Theorie und Akademie, sieht ihre Aufgabe eher darin, ihre Vorbildfunktion (als Autorin und Professorin) am realen Beispiel zu zeigen, immer mit der eigenen Geschichte im Rückspiegel.

Eine Form des Feminismus, die für viele Frauen nachvollziehbarer ist

Für Roxane Gay geht es ebenfalls um die Frage, wie sehr ein westlicher, für Gay weißer Feminismus jemanden wie sie eigentlich miteinschließt. Sie findet sich, so schreibt sie, selten wieder in den Debatten. Mir scheint das einer ähnlichen gedanklichen Linie zu folgen wie der von Walaa Kharmanda beschriebenen. Und vielleicht kommt genau an dieser Schnittstelle auch eine Form des Feminismus zusammen, der für viele Frauen (egal, ob aus der arabischen Welt oder nicht) nachvollziehbarer ist und mit dem sich viel eher identifizieren lässt – der Feminismus mit kleinem „f“, der private, von der Theorie losgelöste, der Brüche nicht nur toleriert, sondern einfach als gegeben hinnimmt. Der darauf fußt, dass Frauen von starken, präsenten Vorbildern großgezogen worden sind und deshalb in der Lage, ein autarkes Leben zu führen. Und dann ja doch – womöglich – zur Feministin mit großem „F“ zu werden.

Was nämlich – und das kann man auch in den Texten von Roxane Gay sehr schön nachvollziehen – bei privaten Vorbildern mit starkem Charakter von unschätzbarem Vorteil ist: Sie sind echt.

Natürlich kann man in meiner Geschichte Fehler finden. Man kann argumentieren, dass längst nicht jede arabische Tante solch eine Erscheinung mit Vorbildcharakter ist wie meine Tante Aisha. Dass sie Glück hatte mit ihrem Mann, mit ihrer Familie, mit ihren gesellschaftlichen Privilegien. Keine Frage. All das stimmt. Das diskreditiert sie aber in meiner Wahrnehmung nicht und macht sie als Role Model nicht ungeeigneter als zum Beispiel Serena Williams oder Marie Curie. Was nämlich – und das kann man auch in den Texten von Roxane Gay sehr schön nachvollziehen – bei privaten Vorbildern mit starkem Charakter von unschätzbarem Vorteil ist: Sie sind echt. Man kennt sie ungeschminkt, hat sie schon Tischdecken bekleckern sehen und weiß, wann sie ihren Mittagschlaf halten. Es sind Menschen, mit Fehlern, mit Brüchen, mit Stärken. Sie sind nicht absolut. Sie generieren mit ihrem Einfluss eine neue Generation, die auf dem Fundament mütterlicher, großmütterlicher, tantiger Stärke ein neues, größeres Haus baut.

Und damit sind sie mir als Vorbilder weiterhin mehr als willkommen, und ich bin dankbar, sie zu haben.

Diese deutsch-arabische Debattenreihe wird von dem Gunda-Werner-Institut für Feminismus und Geschlechterdemokratie gefördert. Im vorherigen Beitrag zu dieser Debattenreihe reflektiert die Schweizer Auslandskorrespondentin Monika Bolliger, wie eindimensionale Identitäten den Feminismus behindern können. Die arabische Übersetzung könnt ihr hier lesen.