Nora Amin ist Choreografin, Theatermacherin, Schriftstellerin und zudem noch so viel mehr, was sich dieser Art von Festschreibung entzieht. Sie ist Gründungsmitglied der „Cairo Opera House Modern Dance Company“ und hat mit ihrem unabhängigen Theaterensemble „Lamusica“ seit 2000 mehr als 35 Stücke erarbeitet. Daneben schreibt sie zahlreiche Bücher; zuletzt ist ihr Werk Weiblichkeit im Aufbruch (2018) auf Deutsch erschienen. In den Jahren nach Beginn des arabischen Frühlings etablierte Amin das „Theater der Unterdrückten“ in Ägypten, nach dem Vorbild des brasilianischen Regisseurs Augusto Boal. Sie inszenierte interaktive Theaterstücke auf Plätzen und Straßen, um auf soziale und systembezogene Probleme aufmerksam zu machen.

In Berlin hat Nora Amin aktuell die Valeska-Gert-Gastprofessur im Bereich Theater und Tanz an der Freien Universität inne, wo sie ein Seminar zu Tanz als Medium von Widerstand, Transformation und Heilung anleitet. Ausgehend von persönlichen Erfahrungen forscht sie mit ihren Studierenden zu den physischen Konsequenzen von Traumata. Anfang Mai sitzen wir zusammen in den Prinzessinnengärten in Berlin-Kreuzberg. Amin hat gerade an der Akademie der Künste ihren Eröffnungsvortrag „Performing Trauma“ gehalten.

Was macht aus einem Körper einen Traumatisierten? Wie können wir be-greifen was geschehen ist? Wie darüber sprechen? Nora Amin beginnt ihren Vortrag mit einem einschneidenden Erlebnis: 2005 stand ein Theater im Süden Ägyptens in Flammen, nachdem eine umgefallene Kerze das Bühnenbild in Brand gesetzt hatte. Die Sicherheitsvorkehrungen des staatlich geführten Theaters waren nicht ausreichend, der Boden und die Vorhänge entflammbar, die Tür von außen verschlossen. Es gab zahlreiche Tote. Amin nennt es „ein massives Töten von Seiten eines korrupten Staates“. Ein kollektives Trauma. Für Amin selbst auch ein individuelles, da sie durch den Brand den Vater ihrer Tochter verlor. Solche Erfahrungen sind schwer in Worte zu fassen, sind es doch physische und emotionale Ereignisse, die wir tief in unserem Körpergedächtnis tragen. In der Arbeit am Körper sieht Nora Amin eine Möglichkeit, sich mit ihnen auseinanderzusetzen.

Traumatische Erfahrungen sind Teil von Amins Performances

Durch Tanz wird der Ausdruck des Körpers für sie be-greifbar. Mit dem erneuten Durch-leben wird ein Transformations- und Heilungsprozess initiiert, für die Performenden wie für die Zuschauenden. In Amins Solo-Arbeit „Resurrection“ fließt die traumatische Erfahrung des Theaterbrandes mit ein. Sie tritt mit ihrem Publikum in einen Dialog und überträgt ihm dabei auch Verantwortung. Die Zuschauenden werden nicht als Masse, sondern in ihrer Individualität wahrgenommen.

Nora Amin

© Jacob Stage

Verantwortung tragen wir auch als Zuschauende und Zuhörende in der Akademie der Künste. Mich selbst überfallen Unsicherheiten und Hemmungen. Wie viel Emotionalität erlaube ich mir beim Zuhören? Der Vortragsraum umfängt mich im klar definierten Rahmen des akademischen Kontextes. Alle klatschen an den „richtigen“ Stellen, sitzen möglichst still, produzieren nicht unmäßig Geräusche. Ein Ausbrechen fällt mir schwer. Nora Amin spricht von dieser Blockade, die keine wirkliche Resonanz erlaubt. Ihren Vortrag beschreibt sie als nicht ausschließlich intellektuelle und emotionale, sondern auch als physische Herausforderung. An manchen Stellen muss sie kurz innehalten und sich sammeln. Nach einem Moment der Pause spricht sie das Publikum an: „Ihr könnt jetzt wieder atmen.“ Sie erfasst damit genau die Atmosphäre im Raum. Ich hole ertappt Luft.

Die psychosomatische Teilhabe des Publikums ist Amin wichtig

Ähnliches beschreibt Nora Amin auch in Bezug auf Publikumsreaktionen während ihrer Performances. Ein kontrolliertes Zurückhalten des Schmerzes führe oft zu momenthaften Ausbrüchen, statt dass Emotionen graduell Teil der Erfahrung werden. Die Zuschauenden seien irritiert und erleichtert zugleich über das Herausbrechen ihrer angestauten Empfindungen. Die psychosomatische Teilhabe, die Amins Arbeiten ermöglichten, basiert auf einem einenden Moment – der kollektiven Erinnerung an einen von Schmerz erfüllten Körper.

Nora Amin zieht diese Erkenntnis aus jahrelanger Erfahrung. Es sei unwesentlich, ob sie mit Frauen aus Schweden, dem Sudan, Ägypten oder wie jetzt mit einer Studierendengruppe aus Deutschland arbeite. Alle beschrieben bei einer Konfrontation mit Unterdrückung und Entwürdigung ähnliche körperliche Empfindungen – einen Druck auf das Zentrum des Körpers, als würde man der Schwere nachgeben müssen und in Richtung Boden gezogen.

Das Auslöschen der Würde, die Entmenschlichung im Verlauf eines traumatisierenden Ereignisses ist eine kollektiv nachvollziehbare Erfahrung des Identitätsverlustes. Das Selbst wird zerstört, entfremdet und der Scham ausgesetzt. Macht und Gewalt wirken aber nicht nur auf der physischen, sondern auch auf der psychischen Ebene. Ein Beispiel, das Nora Amin gibt, ist die Objektivierung von Frauenkörpern, z.B. in den Gruppenvergewaltigungen auf dem Tahrir-Platz in Kairo. Diese Übergriffe wurden zum Symbol gewaltvoller Machtausübung und Zurückgewinnung männlicher Souveränität. Frauen verloren dabei ihren Status als Mensch.

Amins Performances schaffen Raum für Menschlichkeit

Dieses Phänomen beschränkt sich jedoch nicht auf die arabische Welt, sondern findet sich auf der ganzen Welt wieder. Nora Amin zieht in ihrem Vortrag und unserem anschließenden Gespräch mehrfach Verbindungen zu liberaleren Systemen. Sie erinnert an die teils spontanen, teils systematischen brutalen Übergriffe auf Frauen durch Soldaten im Zweiten Weltkrieg und an das aktuelle Schweigen über häusliche Gewalt in Deutschland. Performances bieten laut Amin einen Raum für Empowerment, für Solidarität und Menschlichkeit. Sie geben eine Möglichkeit zu handeln, das eigene Selbst zu heilen und zurückzugewinnen.

Der Widerstand der Frauen auf dem Tarhir-Platz; die Klage, die Opfer des Theaterbrands 2005 gegen den ägyptischen Staat erhoben haben; die umfangreiche performerische und schriftstellerische Arbeit Nora Amins: All das widerspricht der Option eines stillen Aufgebens. Amin kämpft für die Kontinuität des Widerstandes und einer anhaltenden Auseinandersetzung mit Unterdrückung. Damit der Angst nicht nachgegeben wird.